Die Degradierung des Gemeinwohls zum Handelshemmnis
Die Freihandelsabkommen TTIP 1) mit den USA und CETA mit Kanada sowie das Diensthandelsabkommen TISA mit den USA werden in der politischen Öffentlichkeit heftig diskutiert. Politiker aller Parteien, die an der Aushandlung der Verträge mitwirken, die Geschäftswelt, deren Erfolgsbedingungen Gegenstand der Verträge sind, und Wirtschaftsexperten aller Couleurs wälzen die Frage, wie viel amerikanische Konkurrenz auf dem heimischen Markt das hiesige Geschäft belebt und wie groß im Gegenzug die Chancen auf Eroberung neuer Märkte in den USA für deutsche Branchen durch die Beseitigung amerikanischer Handelsbeschränkungen sind. Begibt sich die europäische bzw. deutsche Politik unerlässlicher Eingriffsmittel zur Förderung des eigenen Geschäfts und öffnet überlegenen amerikanischen Multis den europäischen Markt? Oder befreit sie durch das Abkommen Europas Unternehmen gerade umgekehrt von den Nachteilen eines kostenträchtigen politischen Vorschriftenwesens auf dem amerikanischen Standort? So ventilieren Macher und perspektivische Nutznießer von TTIP die Erfolgsaussichten für das nationale Wachstum. Auf jeden Fall, so der Tenor der Regierung, verleiht das Abkommen dem wechselseitigen Geschäftsverkehr zwischen den beiden weltwirtschaftlichen Großmächten einen qualitativen Schub, von dem am Ende beide Seiten nur profitieren können, und ist insofern ein unverzichtbarer Meilenstein politischer Wachstumsförderung. In diesem Sinne verkündet die Kanzlerin, dass es für Deutschland unabdingbar ist, „den Handel mit den USA zu fördern und ihn nicht Wettbewerbern aus anderen Weltregionen zu überlassen. An Ertrag wird es nicht mangeln.“ 2) Die politisch Zuständigen geben damit Auskunft über die prinzipielle Bedeutung und Zwecksetzung des geplanten politischen Abkommens: Ihnen geht es um eine umfassende Befreiung des zwischenstaatlichen Geschäftsverkehrs von nationalen Vorschriften und Regelungen, die sie bisher für nötig erachtet haben, jetzt aber sehr prinzipiell als Hindernisse geschäftlichen Wachstums ins Auge fassen, mithin um die Entfesselung der Konkurrenz ihrer weltweit agierenden Kapitale. Davon erwarten sie maßgebliche Fortschritte bei der Mehrung ihres nationalen Reichtums. Deswegen streiten sie dann auch ausgiebig darüber, wie die künftig für beide Seiten gültigen Erlaubnisse und Bedingungen des Geschäfts aussehen sollen, auf dessen Ertrag sie aus sind.
Dagegen melden sich die TTIP-Kritiker der verschiedenen Initiativen und Vereine mit der Frage: „Was bedeutet der Vertrag für uns?“3) ) aus der Position der Betroffenen, als umfassend Geschädigte. Sie beschwören – nicht minder prinzipiell – die „Gefahren“ „für uns“, also die Bürger im Land, und beklagen, dass die Definition von Handelsschranken, allen voran die sogenannten „nichttarifären Handelshemmnisse“, die mit TTIP aus dem Weg geräumt werden sollen, einen generellen Angriff auf alle Lebensbedingungen darstellt. Kritisiert werden Eingriffe in Verbraucher- und Tierschutz, Kennzeichnungspflichten, Medikamentenzulassung, Datenschutz, Buchpreisbindung, öffentliche Ausschreibungsverfahren, Wasserversorgung und andere öffentliche Dienstleistungen, in das Arbeitsrecht und überhaupt in die nationale Rechtshoheit, weil TTIP privaten Firmen erlaubt, gegen Beschränkungen ihrer geschäftlichen Aktivitäten durch den ansässigen Staat vor einem eigenen Schiedsgericht zu klagen. Kurz:
„TTIP verändert, sofern es umgesetzt wird, fast alle Bereiche des Lebens. Vom Krankenhaus in Ihrer Kommune bis hin zu den Pflanzen, die in Zukunft auf den Feldern Ihrer Umgebung angebaut werden dürfen. TTIP wird damit zentrale Bereiche unseres Lebens, der Arbeit und Produktion neu regeln“, und mit „verändern“ – und mit „neu regeln“ meinen sie: verschlechtern.4) „Als Handelshemmnis können die Vertragspartner alles definieren.“ (campact).
Mit Kampagnen wie „Ich bin ein Handelshemmnis!“ 5) geben sie ihrer Verbitterung Ausdruck, dass die Politik mit TTIP die Belange der Bevölkerung der Förderung des Geschäfts opfert, weil sie lauter Schranken beseitigt, die dem Schutz von elementaren Bürgerinteressen dienen. Das sollte, das dürfte nicht sein!
Wovon die TTIP-Kritik ausgeht
Es liegt in der Logik der Freihandelskritik aus der Perspektive der Betroffenen, dass, wer den Wegfall von Schranken für den Geschäftsverkehr zwischen Staaten für prinzipiell schädlich erachtet, davon ausgeht, dass dieser Wegfall Interessen entfesselt, die längst existieren und sich betätigen und von denen die befürchteten schädlichen Wirkungen für alle Lebensbereiche ausgehen. Tatsächlich argumentiert die TTIP-Kritik mit der Gewissheit, dass die Produktion ebenso wie der Vertrieb von Waren einem anderen Erfolgsmaßstab folgen als dem Bedarf der Verbraucher nach ordentlichen und umweltgerechten Gebrauchsgegenständen: Gleichgültig in welcher Konsumentenrolle, man kriegt es mit Schadstoffen zu tun; mit den Arbeitskräften im In- und Ausland wird rücksichtslos umgesprungen; Flüsse werden verdreckt, die Luft wird verpestet; Gentechnik und andere Produktionsverfahren werden angewandt, deren Auswirkungen auf Mensch und Natur ungeklärt sind… Die Liste der bereits eingetretenen und mit dem Wegfall von Schranken der geschäftlichen Freiheit zusätzlich befürchteten Gefahren ist schie endlos. Mit deren Umfang, mit Warnungen vor der Privatisierung des Geschäfts mit elementaren Lebensmitteln wie etwa Trinkwasser tun die TTIP-Kritiker kund, dass sie von einer systematischen und keinesfalls singulären oder ungewollten Rücksichtslosigkeit gegenüber den Bürgern als Konsumenten und Arbeitenden durch die Geschäfts- und Handelswelt ausgehen. Das alles ist ganz offensichtlich rational vom Standpunkt der Unternehmen, die den Warenmarkt mit Produkten bestücken, die vor allem eines leisten müssen: Sie müssen der Firma Gewinn einspielen – alles andere ist diesem Hauptzweck untergeordnet, wird als Kosten kalkuliert, die es möglichst niedrig zu halten gilt.
Die Kritiker glauben selbst auch keinen Moment lang daran, „die Konzerne“ und deren „Gewinninteressen“, in denen sie den treibenden Motor der Schädigungen erkennen, könnten aus freien Stücken auf ihre Geschäftspraktiken verzichten, bei denen „unsere Lebensmittel“ zuschanden werden; sie gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass man sie dazu nötigen muss. Sie adressieren ihren Protest ja von vornherein nicht an die lieben Unternehmer, die nach allgemeiner Übereinkunft für die „Versorgung“ der Gesellschaft mit nützlichem Zeug zuständig sind, sondern an die Staatsgewalt: Die soll dafür sorgen, dass Bekömmliches auf den Tisch kommt; und zwar dadurch, dass sie dem Gewinninteresse Schranken setzt bzw. die Schranken, die es bereits gibt, aufrechterhält. In der staatlichen Macht sehen sie die einzige Instanz, die diese Akteure dazu zwingen kann, bei der Verfolgung ihrer Wirtschaftsinteressen eine gewisse – kostenträchtige, also gewinnmindernde – Berücksichtigung der Wirkungen ihres Wirtschaftens auf Land und Leute einzukalkulieren.
Mit ihrem Anliegen „TTIP verhindern!“ halten sich die Kritiker bei ihrem Befund über die systematische Rücksichtslosigkeit des Geschäfts also nicht lange auf. Sie beschäftigen sich gar nicht weiter mit der Frage nach der Natur des herrschenden „Gewinninteresses“, nach dessen systemischen Gründen, woher es seine Macht bezieht, die gesamte Gesellschaft von seinen geschäftlichen Notwendigkeiten abhängig zu machen: Man zielt nicht auf die Beseitigung der Quelle der beklagten Folgen kapitalistischer Geschäftstätigkeit, sondern auf eine staatliche Beschränkung bei der Wahrnehmung der Interessen, die diese Wirkungen zeitigen.
Der Staat: die ewig versagende Ausgleichsmacht
Der Tatsache, dass die Politik den Umgang mit Mensch und Natur unter ihrer Hoheit gesetzlich regelt, Grenzwerte für die Verwendung von und die Belastung mit Schadstoffen festlegt, Verfahren für die Zulassung von Chemikalien und Medikamenten vorschreibt, einen rechtlichen Rahmen für Art und Umfang der betrieblichen Verwendung wie auch für die Freisetzung von Arbeitskräften schafft – all dem entnehmen die Kritiker, dass der Staat die richtige Adresse für ihren Antrag ist, dem Walten des Geschäfts Schranken zu setzen. Ihm trauen sie zu, dass er der Profitmacherei Grenzen ziehen kann, dass er also die Macht ist, die über der ökonomischen Macht des Geldes steht. Nicht auffallen will ihnen, dass diese Macht es dann aber offensichtlich auch ist, die die privaten Gewinninteressen zuallererst dazu ermächtigt, die Gesellschaft zum Mittel ihrer Bereicherung zu machen. Die staatliche Reglementierung der unternehmerischen Gewinnansprüche setzt schließlich deren unwiderrufliche, rechtlich gesicherte Geltung voraus. Die Anträge der TTIP-Gegner auf ein wirksames staatliches Eingreifen bemerken an seiner Regelungsmacht aber immer nur die einhegende Seite, also die Reaktion auf die ruinösen Folgen der Geschäftsinteressen in der Gesellschaft. Den Staat nehmen sie einzig und allein als eine Schutzmacht im Interesse der Betroffenen wahr.
Mit ihren Klagen über die ruinösen Wirkungen des Geschäfts, die durch staatliches Eingreifen zu korrigieren seien, nehmen die Kritiker also beides, die Geldrechnungen, die sie für ihre langen Listen der Schäden haftbar machen, und das staatliche Wirken, das diese Schäden unterbinden soll, eigentümlich unernst. An der Geschäftswelt monieren sie die allzu große Freiheit eines an sich legitimen privaten Bereicherungsinteresses, die nach ihrem Dafürhalten nach staatlichen Korrekturen verlangt. Die staatliche Hoheit wiederum, die diese Freiheit stiftet, legen sie sich als nützliche Instanz zurecht, die den beschädigten Interessen der Bürgermehrheit Berücksichtigung zu verschaffen und so für einen ‚Ausgleich‘ zwischen privater Geldgier und allgemeinem Wohlergehen zu sorgen hätte. Diesen Auftrag, den sie mit mehr oder weniger großen Worten über „sozialen Ausgleich und ökologische Politik“ 6) und eine „große sozial-ökologische Transformation, die für eine die Umwelt und die menschliche Gesundheit schützende Produktion und Wirtschaftsweise in den natürlichen Grenzen dringend erforderlich ist“,7) als „Herkulesaufgabe“ (attac, S. 7) vorstellig machen, soll die Politik zum Leitfaden ihres Handelns machen.
Damit missverstehen sie gründlich die Gesichtspunkte und Zwecke, denen all die einschlägigen Vorschriften, Eingriffe und Standortmaßnahmen des Staates dienen. Der ‚Ausgleich‘ zwischen den Interessen, den es tatsächlich gibt, wird schließlich von einer Politik bestimmt, die die Macht der kapitalistischen Wirtschaft will und stiftet. Sie kennt die ruinösen Wirkungen der Profitmacherei und schreibt den Kapitalisten mit ihren Kostenrechnungen deswegen Rücksichtnahmen vor, die sie für den Fortgang der Konkurrenz auf ihrem Standort für nötig hält – und sie nimmt deswegen bei all ihren Regelungen immer auch Rücksicht auf die Gewinnrechnungen, die ja nicht beschädigt werden sollen, sondern dauerhaft aufgehen sollen. Die Rede vom „Ausgleich“ ist dafür die beschönigende Floskel.
Dass der gewünschte Ausgleich den bleibenden Gegensatz zwischen den Bedürfnissen der ‚Wirtschaft‘ und denen der Bürger unterstellt und nie so zustande kommt, wie die Anhänger der ‚Versöhnung von Ökologie und Ökonomie‘ sich das vorstellen, lässt sie an ihrer Aufgabenbeschreibung nicht zweifeln. Wo immer sie darauf stoßen, dass die Standards, Auflagen und Regelungen, die der Staat dem Geschäft vorgibt, und alle Maßnahmen, mit denen er seinen nationalen Kapitalstandort bewirtschaftet, den Schutz gar nicht gewährleisten, also auch nicht zum bestimmenden Zweck haben, den sie hineinlesen und erwarten, beklagen sie Versäumnisse und Unterlassungen der Politik und registrieren einen immer noch unerledigten, ‚noch nicht‘ ordentlich in Angriff genommenen Zukunftsauftrag. Das Register unhaltbarer Zustände, die sie im Land identifizieren, ist lang:
„Wir brauchen keine niedrigeren, sondern höhere Schutzstandards, ob es nun den Einsatz von Pestiziden, die Massentierhaltung oder saubere Energiequellen angeht.“ 8)
„Die EU-Umweltpolitik [ist] in vielen Punkten weit entfernt von nachhaltigkeitskonformen Zuständen […] nicht nur bei Klimagasen und Ressourcenverbräuchen, sondern auch beim Schutz vor Schadstoffen wie etwa Feinstaub.“ (BUND, S. 14)
„Die soziale Abwärtsspirale dreht sich schneller“, die „soziale Spaltung nimmt zu“, „dringend notwendige Verbesserungen werden verhindert“, „jetzt schon [leiden] Personal und Patienten“ unter der Privatisierung der Krankenhäuser und dem dort herrschenden „Konkurrenzdruck“, „heute schon“ herrscht ein „hohe(r) Druck auf Löhne, Arbeits- und Umweltbedingungen.“ (BUND, S. 21 und 17)
Alles, was die Gegner von TTIP an mehr oder weniger skandalösen Zuständen entdeckt haben wollen, legen sie sich als Indiz des Versagens der politischen Macht zurecht – und wenn derselbe Staat sich jetzt auch noch auf ein umfassendes Freihandels-Regime verpflichtet, verbaut er sich in ihren Augen die Chance, die konstatierten Defizite zu beheben und so seine ‚Fehler‘ auszubügeln.
TTIP – ein großer Schritt in die ganz falsche Richtung:
„Verkauft nicht unsere Zukunft!“
Die Kritiker entdecken im Niederreißen von „nichttarifären Handelshemmnissen“, das mit TTIP droht, den endgültigen Verzicht auf das gute Regulierungswerk, mit dem sie den Staat beauftragt haben:
„Ziel des TTIP ist es … ‚besser‘ zu deregulieren als in den WTO-Verträgen. Es geht um weitere ‚Freiheiten‘ für das Kapital, was umgekehrt den Rückzug des Öffentlichen oder der öffentlichen Hand und den Abbau von umwelt- und sozialpolitischen Regeln zur Folge haben wird.“ (Attac, S. 17)
Das ins Auge gefasste umfangreiche politische Regelwerk, das der Neujustierung der zwischenstaatlichen Konkurrenz dient, fassen die TTIP-Kritiker mit dem Vorwurf der „Deregulierung“ so auf, als würde sich der Staat künftig überhaupt aus der Wirtschaft heraushalten. Sie sind konfrontiert damit, dass Amerikas und Europas Staaten in Hunderten von Paragraphen um neue Rechtsregeln für den Geschäftsverkehr zwischen ihnen ringen – und weil sie darin die Abkehr vom guten Sinn staatlicher Regeln erblicken, fassen sie den ganzen Verhandlungsprozess als eine einzige Etablierung von Regellosigkeit. Sie können in einem Atemzug aufsagen, dass die Konzerne „den Staat raushalten“ und gleichzeitig ihre Interessen „rechtlich verankern“ 9) wollen, ohne zu bemerken, dass diese ‚Verankerung‘ die Instanz verlangt, die eben diese Interessen rechtsverbindlich und damit auch zum bleibenden Objekt ihrer Beaufsichtigung macht.
Zwar haben die Kritiker bisher an den bestehenden „umwelt- und sozialpolitischen Standards“ wenig Begrüßenswertes gefunden, aber jetzt, in Anbetracht der mit TTIP geplanten Entschränkung der internationalen Konkurrenz, erscheinen ihnen dieselben Standards als ein „Immerhin“, das es mit dem Schlachtruf „TTIP verhindern!“ zu verteidigen gilt. Mit TTIP werden nicht gute, sondern schlechte Lebensverhältnisse noch schlechter. Aber angesichts der „Verschärfung“, die TTIP bringt, erscheint ihnen die gegenwärtige Misere als vergleichsweise akzeptabel: Immerhin greift der Staat ein, immerhin gibt es überhaupt Regelungen, mögen sie auch noch so miserabel sein, mögen sie auch statt Bürgerschutz und Bürgerwohl ganz andere Interessen fördern. Immerhin: Kapitalisten dürfen nicht alles. Sondern nur das, was nicht verboten ist. Eine grandiose Errungenschaft, die die eben noch unerträgliche Schädigung der Leute und Verschmutzung der Umwelt fast vergessen lässt: Jetzt werden „einige unserer wertvollsten Sozialstandards und Umweltvorschriften“ (BUND, S. 14) geopfert. 10)
Bestätigt sehen sich die TTIP-Gegner durch den Blick über den Atlantik. Dort entdecken sie die Zustände, die die europäischen Verhältnisse in ein besseres Licht rücken:
„Umweltschutz ist in der EU nicht immer spitze. Doch immerhin gibt es noch das ‚Vorsorgeprinzip‘.“ „Auch wenn es in der EU immer wieder Lebensmittelskandale gibt. Es gelten strengere Vorschriften und Deklarationspflichten als in den USA – etwa für gentechnisch veränderte Stoffe in Futtermitteln …“ (Die Linke, S. 11 und 13)
So machen sie sich mit ihrer ‚Immerhin‘-Logik dafür stark, dass die Regierung das in Frage gestellte europäisch-deutsche Regelwerk standhaft gegen ‚amerikanische‘ Geschäftsprinzipien behauptet. Da muss man die Bestimmungen der unterschiedlichen Standortregelungen gar nicht im Einzelnen ernsthaft prüfen. Mögen die Protestierer an der staatlichen Organisation der Lebensbedingungen auf dem nationalen Kapitalstandort noch so viel auszusetzen haben, eines steht fest: Der Blick auf die in den USA herrschenden Geschäftssitten bestätigt ein weiteres Mal, dass Europa viel zu verteidigen hat.
So machen sich die Kritiker stark für den Erhalt staatlicher Regelungen, in denen sie ihre Interessen gar nicht zureichend bedient sehen: Im Vergleich mit TTIP, das ganz in die „falsche Richtung“ zielt,11)) sind ihnen die europäischen Vorschriften zum Schutz der Natur und des Verbrauchers allemal lieber – nicht, weil sie in ihrem Sinne wirklich wirksam wären, sondern weil sie fest daran glauben, dass sich aus unseren Gesetzen etwas Besseres und Wirksames machen ließe. Sie dichten staatlichem Handeln die Bestimmung an, ‚Herausforderungen‘ zu bewältigen, und sortieren die wirkliche staatliche Praxis nach besseren, schlechteren und ganz schlechten Ansätzen. So gesehen ist TTIP eine einzige Fehlanzeige hinsichtlich der staatlichen Zukunftsaufgaben, die sie im jetzigen Zustand zwar ‚noch nicht‘, aber damit, dass der Staat überhaupt ‚reguliert‘, ‚immerhin‘ schon ein wenig in die richtige Richtung angepackt sehen.
Lauter falsche Versprechungen: weder Wachstum noch Arbeitsplätze!
Deswegen nehmen Kritiker auch die staatliche Agitation, mit der für TTIP geworben wird – die Schaffung neuer Arbeitsplätze, die Hebung des allgemeinen Wohlstands hochgerechnet auf einige Hundert Euro pro Einwohner … – ernster als die Politik, die sie veranstaltet. Wenn die Regierung das angestrebte Geschäftswachstum und die Mehrung nationalen Reichtums in Bilder bürgerdienlicher Fortschritte von Handel und Wandel übersetzt, von denen schließlich der arbeitende und Geld verdienende Bürger abhängig ist, also auch nur profitieren kann, dann klingt das in den Ohren der TTIP-Kritiker wie ein Versprechen:
„Versprochen wird – wie so oft – mehr Wachstum, Wohlstand und Arbeitsplätze.“ (Die Linke, S. 4)
Dass ‚Arbeitsplätze‘ im Prinzip ein ‚Gut‘ darstellen, weil sie die Lebensperspektive der von der Wirtschaft Abhängigen sind, daran haben sie keinen Zweifel – als gutes Argument für TTIP wollen sie es aber nicht gelten lassen.12) Sie sehen in diesem Versprechen reine politische Propaganda irgendwo zwischen Falschrechnung und vorsätzlicher Täuschung:
„Die Befürworter des Abkommens beschwören Millionen neuer Jobs, gesteigertes Wirtschaftswachstum und – Achtung, Werbestrategie! – einen Einkommenszuwachs von bis zu 545 Euro pro 4-Personen-Haushalt.“13)
Zum Beweis ihres Verdachts fragen sie nach: „Wie viele Arbeitsplätze und wie viel Wachstum bringt der Vertrag?“ (campact), und entlarven, dass die behaupteten Wachstums-, Wohlstands– und Arbeitsplatzeffekte ganz und gar unrealistisch sind. Sie bemühen wissenschaftliche Gegenstudien, die mit komplizierten makroökonomischen Modellen ausrechnen, dass in Europa das versprochene Wachstum ausbleiben wird, jede Menge kleinerer und regionaler Firmen pleite- und hunderttausende von Arbeitsplätzen verlorengehen:
„In Europa kostet TTIP 583 000 Arbeitsplätze, in Deutschland allein gehen 134 000 Jobs verloren.“ (campact).
Ein von Handelshemmnissen befreites Geschäft mehrt nicht, sondern schädigt – so ihr Befund – das, was es zu vermehren verspricht: den sehr klassenneutral aufgefassten ‚Wohlstand‘ im Land in Gestalt von „Wachstum“ und „Arbeitsplätzen“.14)
Vor lauter Rechnen und Gegenrechnen, vor lauter Entlarven des „Freihandelsbluffs“ (Attac) sehen die Kritiker darüber hinweg, was da eigentlich versprochen wird. Was ist denn das Wachstum anderes als die national bilanzierte Summe der Erträge jener, die überhaupt etwas zum Wachstum beizutragen haben, also der privaten Geschäftsleute? Vom Wachstum dieser Geschäfte ist tatsächlich alles abhängig, aber ist es deswegen auch schon eine positive Lebensbedingung? Arbeitsplätze sind in der Tat für die Mehrzahl die einzige überhaupt erreichbare Einkommensquelle, aber taugen sie deshalb auch schon für die, die daran arbeiten müssen? Auch den TTIP-Kritikern ist bekannt, dass ‚Arbeitsplätze‘ alles andere als eine Verheißung darstellen, weil sie dem Kriterium der Rentabilität, der lohnenden, also niedrig zu haltenden Arbeitskosten gehorchen. Sie äußern ja die Sorge, dass die Arbeitsverhältnisse im Zuge des Freihandelsabkommens ‚prekärer‘, Mindestlöhne ausgehebelt und durch Niedriglöhne ersetzt werden. Sie berichten von den Folgen der Kalkulation mit rentablen Arbeitsplätzen im Zusammenhang mit dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA, und können doch zugleich „Wohlstand und Arbeitsplatz“ sagen.15) Denn gemäß der Logik des ‚immer schlimmer‘ halten sie nicht den gültigen Maßstab fest, dem die Schaffung und Abschaffung von Arbeitsplätzen gehorcht, sondern schreiben die Konsequenzen der geltenden Rentabilitätsrechnungen dem Abkommen und den mit ihm eröffneten neuen Freiheiten des ‚großen‘ Kapitals zu. Nicht was da „verschärft“ wird und warum der Fortschritt kapitalistischen Wachstums immerzu die Lebenslagen der Arbeitenden prekär macht, fassen sie ins Auge, sondern dass mit TTIP bisherige Beschäftigungsverhältnisse verschlechtert werden. So verwandeln sich die existierenden Ausbeutungsverhältnisse in ein Ensemble nationaler Arbeitsplätze ganz ohne negative Konnotation: Im Lichte von TTIP sind das „anständig bezahlte Jobs“, die leider „mehr und mehr“ verdrängt werden. (campact) Die Abhängigkeit der Mehrheit davon, dass kleine wie große Unternehmen sie für ihren Geschäftserfolg anwenden, mutiert zu einer großartigen Dienstleistung, die die Geschäftswelt den Leuten schuldet und die der Staat zu fördern hat, die aber beide mit TTIP definitiv schuldig bleiben.
Verzicht auf staatliche „Gestaltungsmacht“ und Ermächtigung
der Falschen
Für dieses politische Versagen wissen sie auch den Grund: Die Politiker machen sich zum Instrument der falschen Interessen, die die TTIP-Gegner als ‚rücksichtslose Bereicherungsinteressen‘, als personifiziertes Gegenbild einer guten Wirtschaft identifizieren. Sie begeben sich der positiven ‚Gestaltungsmacht‘, die die Kritiker der hoheitlichen Gewalt attestieren und die sie – eigentlich – auf den Auftrag verpflichten soll, die gegensätzlichen privaten Interessen in der Gesellschaft auf ein positives Zusammenwirken hin zu organisieren. Damit spitzt sich die Kritik auf ihren ultimativen Vorwurf zu: Sehenden Auges gehen die politisch Verantwortlichen einen Weg, der zu ihrer schleichenden Entmachtung führt – und nahtlos geht die Befürwortung des Status quo bei den TTIP-Kritikern in die Sorge um die Souveränität ihres Staats über.
– Sie warnen vor dem schädlichen Einfluss von „einigen hundert Industrielobbyisten“, die an den Verhandlungen über TTIP beteiligt sind und damit ‚einseitig‘ Einfluss nehmen 16) und ihre Interessen direkt in die Verträge diktieren.17) Die Tatsache, dass die Verhandlungen „wie Staatsgeheimnisse gehütet“ werden und die „Bevölkerung nur durch unerlaubt veröffentlichte Dokumente“ von den näheren Verhandlungsgegenständen erfährt, gilt ihnen als Beweis dafür, dass mit ihnen auch gleich der Staat in Gestalt „demokratisch gewählter Volksvertreter“ aus den Verhandlungen ausgemischt ist: Ausgerechnet in einem Streit, in dem zwei Seiten, das europäische Staatenkollektiv und die Weltmacht USA, auf höchster politischer Ebene um die für sie jeweils besseren Bedingungen ihrer Standortkonkurrenz ringen, entdecken sie nur noch ein Komplott zwischen ominösen, jeder demokratischen Aufsicht entzogenen Unterhändlern und nicht minder zwielichtigen Lobbyisten der „Großindustrie“.
– Die staatliche Handlungsfreiheit sehen die TTIP-Kritiker durch das vorgesehene Recht der Konzerne bedroht, vor unabhängigen Schiedsgerichten gegen erwartete Gewinneinbußen klagen zu können, die durch staatliche Entscheidungen verursacht werden:
„In diesem System entscheiden keine ordentlichen Gerichte, sondern private, hochbezahlte Juristen. Unabhängigkeit, Rechenschaftspflichten oder Revisionsmöglichkeiten gibt es nicht. Die Zahl solcher Schiedsverfahren steigt weltweit und oft geht es um milliardenschwere Entschädigungsforderungen, vom Steuerzahler zu begleichen. Eine weitere Zunahme möglicher Verfahren hätte unweigerlich eine ‚disziplinierende‘ Wirkung auf Regierungen: lieber auf Verbesserungen im Verbraucherschutz, im Sozial- oder Umweltbereich etc. verzichten, als sich mit Großkonzernen anzulegen.“ 18)
Wie weit die Selbstverpflichtung der Staaten auf Rechte der Konzerne gegen ihre eigenen Standortvorbehalte reichen soll, darüber streiten die Staaten gerade. Um den Inhalt dieses Streits kümmert sich Attac nicht weiter, um seine „unweigerlichen“ Folgen schon: Die bestehen in der abenteuerlichen Annahme, Europa könnte sich durch seine eigenen Regelungen zur Verabschiedung von allen guten Zwecken erpressen lassen, die europäischer Politik offenbar dem Wesen nach einbeschrieben sind.
– Als besonders bedrohlich gilt den TTIP-Kritikern der Plan, künftig Gesetze vor ihrer Verabschiedung und vor aller parlamentarischen Diskussion auf die Übereinstimmung mit TTIP hin zu prüfen:
„Jede künftige Verschärfung von Grenzwerten für Zusatzstoffe in Lebensmitteln oder Schadstoffemissionen aufgrund neuer Erkenntnisse soll dann auf ihre Vereinbarkeit mit dem Freihandelsabkommen abgeklopft werden.“ (Die Linke, S. 13)
Hinzu kommt das Prinzip, dass einmal Vereinbartes nicht revidiert werden kann:
„TTIP ist praktisch unumkehrbar: Einmal beschlossen, sind die Verträge für gewählte Politiker nicht mehr zu ändern. Denn bei jeder Änderung müssen alle Vertragspartner zustimmen. Deutschland allein könnte aus dem Vertrag auch nicht aussteigen, da die EU den Vertrag abschließt.“ (campact) 19)
Wem sagen die Kritiker das eigentlich? Genau daran, Verhandlungsergebnisse rechtlich verbindlich festzuschreiben, haben die politischen Veranstalter ein Interesse, weil sie darauf setzen, ihren Verhandlungspartner dauerhaft auf die für den eigenen Erfolg als günstig eingeschätzten Vereinbarungen zu verpflichten. Dass Staaten um des erwarteten Zugewinns an Reichtum und Macht willen ihre nationale Entscheidungsfreiheit relativieren und im Prinzip keine anderen Bedingungen für ihren Erfolg mehr kennen wollen als die Konkurrenzfähigkeit ihres Kapitals – das erscheint diesen Kritikern als unwiderrufliche Selbstaufgabe der Politik, als eine durch die Politiker herbeigeführte Selbstentmachtung des Staats. Den haben sie sich ja als Schutzmacht gegen die Geschäftsinteressen zurechtkonstruiert, die ihr Staat gerade freisetzen will – das können diese kritischen Moralisten des guten Staates endgültig nicht mehr fassen und erklären ihre Fassungslosigkeit zum Begriff der Sache: Die Politik hebt „das transnationale Kapital praktisch auf eine Ebene mit dem Nationalstaat.“ 20)
Die drohende Auslieferung an die USA
Politische Selbstaufgabe Deutschlands und Europas entdecken die TTIP-Kritiker noch in einem fundamentaleren Sinn: Hinter TTIP steckt die Macht der USA mit multinationalen Konzernen als Speerspitze. Alle an die Wand gemalten schädlichen Wirkungen des Freihandelsabkommens, gegen die die TTIP-Kritiker antreten, erschließen sich ihnen als amerikanischer Anschlag auf europäische Verhältnisse:
„US-Produkte müssten nicht mehr europäische Verbraucherschutz- und Tierschutzstandards einhalten, um in der EU verkauft zu werden. Damit EU-Unternehmen dann nicht benachteiligt sind, müssten die Standards hierzulande gesenkt werden.“ (campact)
Da haben die Kritiker volles Verständnis für die Sorgen der heimischen Konzerne um ihren Erfolg in der Konkurrenz, weil sie in ihrer Not, sich gegen Angriffe amerikanischer Multis behaupten zu müssen, gar nicht anders können als deren Geschäftsmethoden zu übernehmen und sich diese deshalb von ihrem Staat genehmigen lassen wollen. Hinter diesen Multis steht die amerikanische Staatsmacht selbst, die auf hierzulande geltende Regelwerke übergreift und Europa die Geschäftsprinzipien implantiert, die dem US-Kapital Konkurrenzvorteile sichert. Die Kritik an der freiwilligen Übergabe staatlicher Macht an internationale Konzerne landet am Ende bei der Entdeckung, dass hinter diesen Konzernen doch eine politische Macht steht, die, indem sie ihnen dient, sich ihrer bedient: Das amerikanische „Mutterland der Deregulierung und Marktliberalisierung“ (Die Linke), die Heimstatt all des Schlechten, das mit den Schlagworten ‚Globalisierung‘, ‚Multis‘ und ‚Neoliberalismus‘ für empörte Gemüter schon so ziemlich auf den Begriff gebracht ist, greift auf Europa zu. Nicht wenige der TTIP-Kritiker, die mit Beschwerden über die immer schlechter werdenden Lebensverhältnisse im Land antreten, ergreifen so mit einem wenig alternativen Antiamerikanismus Partei für ‚ihr‘ Land und warnen ‚ihre‘ Politiker: Gegen amerikanische Übergriffe haben sie ihre nationale Handlungsfreiheit zu verteidigen anstatt sie Amerika auszuliefern.
Protest und Politik: Ein konstruktiver demokratischer Dialog
Wie bei jedem Protest, so haben auch die TTIP-Gegner das Problem, sich Gehör zu verschaffen, und das packen sie an: Man muss nur alles, was sie gegen „die Skandalverhandlungen“ einzuwenden haben, öffentlich machen, die negativen Auswirkungen des geplanten Abkommens für die Allgemeinheit gebührend an den Pranger stellen und Unterschriften sammeln, mit denen TTIP eine Absage erteilt wird und die Politiker und Parlamente mit einem Nein von unten dazu aufgefordert werden, selber Nein zu sagen. Dass die Verhandlungen von der EU-Kommission unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt werden, beweist ihnen nur, dass hier bewusst das ‚Licht der Öffentlichkeit‘ gescheut wird – dass also dann, wenn das Abkommen an dieses ‚Licht‘ gebracht wird, sich unweigerlich allgemeiner Widerstand gegen es regen wird. Die große Mehrheit der demokratischen Bürger, die große 99 %-Gemeinschaft der Geschädigten, zu denen sie auch „Kommunalpolitiker, Bauern und auch kleine Unternehmer“ (campact) rechnen, muss nur erfahren, was dort für 1 % Nutznießer verhandelt wird – schon steht der Protest, der am Ende auch Eindruck auf die Politik machen und sie von ihrem verkehrten Weg abbringen wird.
In diesem Glauben sehen sich die Kritiker gleich doppelt bestätigt. Einmal durch die öffentlichen Beschwerden von Oppositionspolitikern und Journalisten, die über die Verhandlungen der Brüsseler Behörde hinter verschlossenen Türen klagen und bemängeln, dass sie als nationale Entscheidungsträger und demokratische Begutachter in die Beratungen über diese für die eigene Nation entscheidende Angelegenheit nicht einbezogen sind. Mit ihren Beschwerden an der richtigen Adresse und zu Hoffnungen auf ein Scheitern von TTIP berechtigt sehen sich die Protestierer zum anderen durch den Umstand, dass die ganze Angelegenheit in den Reihen der Politik selbst umstritten ist. Nicht nur bei der Linken – „TTIP kann scheitern! Im Europäischen Parlament und im Bundestag!“ (Die Linke, S. 5) –, auch in der SPD und da nicht zuletzt in Gestalt des für die TTIP-Materie zuständigen Wirtschaftsministers äußert man gewichtige Einwände gegen das Vertragswerk. Die betreffen vor allem den Punkt, in dem auch für die TTIP-Gegner die Kritik gipfelt: die Schiedsgerichte. Die Sorge der politisch Verantwortlichen, ob sie da nicht zuviel Entscheidungshoheit über standortpolitische Belange aus der Hand geben, deckt sich zwar nicht mit den Einwänden der TTIP-Gegner, die an den Schiedsgerichten die freiwillige Preisgabe aller Möglichkeiten bürgernahen staatlichen Wirkens kritisieren. Aber jedes ernste Bedenken der politischen Entscheidungsträger, an die der Protest den Auftrag „TTIP verhindern!“ ja delegiert hat, nährt die Hoffnung, dass die – aus welchen Gründen auch immer – den Vertrag scheitern lassen. Denn Gabriel & Co. nehmen die vorgetragenen Einwände ja auch gerne als Appell an ihre ‚Verantwortung‘ auf und nehmen sich, wie es sich für demokratische Politiker in solchen Fällen gehört, der ‚Sorgen‘ der kritischen Bürger demonstrativ an. Der zuständige Wirtschaftsminister bekundet öffentlich Verständnis für Einwände, die bei ihm schon in den richtigen Händen sind – und rückt sie damit auch gleich zurecht:
„Manche Sorgen teilt er, andere nicht. Manches ist gar nicht Gegenstand der Verhandlungen, anderes faktisch schon erledigt“, vor allem aber: „Privaten Schiedsgerichten werden wir nicht zustimmen.“ (SZ, 26.8.15)
So vereinnahmt der führende SPD-Politiker den Protest für seine politischen Rechnungen mit den Vor- und Nachteilen des Vertragswerks – und weist ihn damit zugleich zurück.
Dem entnehmen die TTIP-Gegner, dass auch die Politik nicht umhinkommt, ihren Einwänden, wenigstens ein Stück weit, Recht zu geben – und überhören beim Kampf um noch mehr politische Beachtung von Bedenken betroffener Bürger komplett, worum sich die Bedenken deutscher Politiker wirklich drehen:
„Selbst das starke Deutschland wird in ein paar Jahren gegenüber den neuen Riesen in der Welt – China, Indien, Lateinamerika – zu klein sein, um gehört zu werden. […] Selbst als Europäer alleine sind wir zu klein, denn der Anteil der Europäer an der Weltbevölkerung sinkt. In China und Indien leben heute 2,6 Milliarden Menschen, im Jahr 2050 werden es drei Milliarden sein. In Deutschland schrumpfen wir dagegen von heute 80 Millionen auf dann 75 Millionen. Die Welt wächst in Asien und sie wird kleiner bei uns. Die Chinesen sprechen selbstbewusst von einem „asiatischen Jahrhundert“. Wenn wir also die Balance in der Welt halten wollen, brauchen wir Partner. Zuallererst die USA.“ 21)
So reicht der Wirtschaftsminister den TTIP-Kritikern ihre Sorge um die staatliche ‚Gestaltungsmacht‘ zurück: Was sind schon zwei Millionen Unterschriften gegen die drohende Macht von Milliarden Chinesen, deren Führer auf dem Sprung sind, zum ökonomischen Riesen und zur bestimmenden Macht über die Regeln des Weltmarkts aufzusteigen! Das kann man Gabriel also abnehmen: Er hat keineswegs vor, sich von Amerika instrumentalisieren zu lassen, sondern beabsichtigt umgekehrt, durch eine verstärkte ökonomische Partnerschaft mit den USA die deutsch-europäische Macht gegen das von China ausgerufene „asiatische Jahrhundert“ zu stärken. Es geht um die Zukunft der imperialistischen Macht Deutschland – die darf keinesfalls „verspielt“ werden!
1) Die Analyse der Prinzipien und Widersprüche des Abkommens findet sich in GegenStandpunkt 3-14: Mit TTIP zur Wirtschafts-NATO. Dollar-Imperialismus und Euro-Binnenmarkt – gemeinsam unüberwindlich.
2) „An Ertrag wird es nicht mangeln“. Warum die Kanzlerin das G-7-Treffen für notwendig hält, aber auch versteht, dass es Proteste gibt. Interview mit Angela Merkel von M. Bauchmüller, N. Fried und S. Kornelius vom 29. Mai 2015, sueddeutsche.de
3) Die Internetplattform campact: 5-Minuten-Info: Handels- und Investitionsabkommen TTIP, www.campact.de. (Im Folgenden im Text ausgewiesen als „campact“)
4) Die Linke: TTIP stoppen! Geheimes Handelsabkommen bedroht unsere Demokratie. S. 1 und 3, www.linksfraktion.de. (Im Folgenden im Text ausgewiesen als „Die Linke“ + Seitenzahl)
5) www.ich-bin-ein-handelshemmnis.de
6) Harald Klimenta u.a.: Die Freihandelsfalle. Transatlantische Industriepolitik ohne Bürgerbeteiligung – das TTIP. Attac Basistexte 45, Hamburg, 2014, S. 7, www.vsa-verlag.de. (Im Folgenden zitiert als „Attac“ + Seitenzahl)
7) BUND: Das Gemeinwohl ist nicht ver(frei)handelbar. Kein transatlantisches Freihandelsabkommen TTIP auf Kosten von Mensch und Umwelt! S. 33, www.bund.net. (Im Folgenden zitiert als „BUND“ + Seitenzahl)
8) www.stop-ttip.org
9) So Thilo Bode in einem Interview im Bayerischen Rundfunk über sein Buch: Die Freihandelslüge. Warum TTIP nur den Konzernen nützt – und uns allen schadet. DVA, 2015 (www.br.de)
10) In seiner Broschüre zeichnet der BUND ein Bild der heutigen ökonomischen Benutzung von Mensch und Natur, das den Widersinn vorführt, beklagte Zustände als eine vergleichsweise bessere Lage gegen TTIP zu verteidigen:
„Schon jetzt werden die Strukturen in der Landwirtschaft und der Lebensmittelerzeugung weltweit von einer immer kleineren Anzahl von Akteuren dominiert. Wie aus dem Fleischatlas 2014 eindrücklich hervorgeht, teilen sich mittlerweile einige wenige, meist multinational operierende Unternehmen den Markt für Fleisch oder Saatgut untereinander auf. Kleinere Höfe haben beim Zukauf von Boden das Nachsehen gegenüber Großinvestoren. Gleichzeitig wird die Erzeugung von landwirtschaftlichen Produkten bzw. Lebensmitteln immer intensiver – unter dem massiven Einsatz endlicher Ressourcen wie Phosphor und Erdöl und zulasten ökologischer Güter wie Boden, Klima, Wasser und Biodiversität. Diese Produktionsweise rechnet sich, weil die entstehenden externen Kosten von den Verursachern nicht selbst bezahlt werden müssen. Sowohl in den USA als auch in der EU wird diese Entwicklung durch das Fehlen von Regularien und den Einsatz falscher Anreize verstetigt. TTIP gäbe diesen Entwicklungen einen zusätzlichen Schub.“ (S. 16)
11) Das einschlägige BUND-Zitat in Gänze:
„Das TTIP steht damit im Gegensatz zur großen sozial-ökologischen Transformation, die für eine die Umwelt und die menschliche Gesundheit schützende Produktion und Wirtschaftsweise in den natürlichen Grenzen dringend erforderlich ist. Unter diesen Vorzeichen lehnt der BUND die TTIP-Verhandlungen ab.“ (BUND, S. 33)
12) „Da die Wirtschaftswissenschaften weder zweifelsfreie noch hervorragende Gründe für eine weitere Vertiefung des europäisch-amerikanischen Handels anbieten können, verschiebt sich unser Blick notgedrungen von den Hoffnungen zu den Gefahren des TTIP.“ (Attac, S. 39)
Könnten die behaupteten Beschäftigungs- und Wachstumseffekte bewiesen werden, würden sich nach dieser Logik die Einwände gegen die schädlichen Folgen des Abkommens für Umwelt, Gesundheit und andere Lebensumstände glatt relativieren.
13) keinco2endlager.de
14) „Neben all der Kritik, die bereits schon geäußert wurde, würde uns das TTIP zusätzlich noch das Gegenteil von dem bescheren, was versprochen wird: Weniger Wachstum und weniger Arbeitsplätze! Ein Programm für den wirtschaftlichen Niedergang, erkauft durch die Absenkung von Schutzstandards für Mensch und Umwelt und die Aufgabe demokratischer Gestaltungsmöglichkeiten zugunsten multinationaler Konzerne.“ (www.muenster-gegen-ttip.de)
15) „Mythos 2: Freihandel schafft Wohlstand und Arbeitsplätze. Die Erfahrung mit bisherigen ‚Freihandelsabkommen‘ zeigt, dass diese Verträge vor allem die Macht und Profitraten transnationaler Konzerne stärken – und dies meist zu Lasten der Bevölkerungsmehrheiten. Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA etwa hat für Mexiko zu einer wirtschaftlichen Katastrophe geführt: Millionen von Kleinbauern verloren durch hochsubventionierte Billigimporte aus den USA ihr Einkommen. Auto- und Textilhersteller aus den USA wiederum verlagerten ihre Produktion in den Norden Mexikos, wo nun zu Niedrigstlöhnen in Sweatshops ohne gewerkschaftliche Organisation gearbeitet wird. Freihandel dieser Art fördert einen ruinösen Standortwettbewerb und verringert staatliche Umverteilungsspielräume. Attac fordert daher gerechten Handel statt freien Handel. Arbeitnehmerrechte, Umweltstandards und Demokratie müssen Vorrang vor einseitigen Handelsinteressen haben. In Zusammenarbeit mit zahlreichen anderen Organisationen hat Attac ein Alternatives Handelsmandat erarbeitet.“ (www.attac.de)
16) „Erheblichen Einfluss auf die Verhandlungen hat dagegen die Wirtschaftslobby, die den Großteil der berücksichtigten Expertisen stellt.“ (Attac: Freihandelsabkommen EU-USA – Konzerne profitieren, Menschen verlieren!)
17) „Dagegen haben einige hundert Industrielobbyisten exklusiven Zugang und die Möglichkeit, ihre Interessen direkt in den Vertrag zu diktieren. Ziel der Verhandlungs-Elite ist es, die Verhandlungen geheim abzuschließen und den demokratisch gewählten Vertretungen der Bürger/innen dann nur noch die Wahl zwischen Zustimmung und Ablehnung zu lassen.“ (campact)
18) Attac: Freihandelsabkommen EU-USA – Konzerne profitieren, Menschen verlieren!
19) Die EU wird wohl kaum darunter leiden, dass bei der Tiermast Antibiotika verwendet werden, ganz im Unterschied zu den Kritikern. Aber die wollen ja auf Teufel komm raus zwischen sich und der Obrigkeit keine prinzipielle Differenz sehen:
„Im EU-Recht wird der Status Quo festgeschrieben: Keine Chance mehr für dringend nötige Regeln gegen den Missbrauch von Antibiotika bei der Tiermast oder gegen hormonähnliche Substanzen in Alltagsgegenständen.“ (campact).
20) John Hilary: Das Transatlantische Handels- und Investitionsabkommen. Freibrief zur Deregulierung; Angriff auf Arbeitsplätze; Ende der Demokratie. Rosa Luxemburg Stiftung Büro Brüssel. Mai 2014, S. 7, rosalux-europa.info
21) Sigmar Gabriel: Mut und Selbstbewusstsein. 6. März 2015, www.bild.de