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Der Amoklauf von Winnenden:

„School Shooting“ – eine Geisteskrankheit?

von Prof. Dr. Freerk Huisken, Bremen

Im März erschießt ein junger Mann in seiner ehemaligen Schule mehrere Schüler und Lehrer, auf der Flucht einige Passanten und anschließend sich selbst. Die Öffentlichkeit reagiert mit entsetzter Fassungslosigkeit: „Unfassbar“ und gänzlich „unerklärlich“ soll es sein, dass ein „ganz normaler“ junger Mensch, der bis dahin „völlig unauffällig lebte“, so etwas tut. Tage später dann eine Nachricht, die Einsicht vermitteln soll: Tim K. war in psychiatrischer Behandlung! Die Gemeinde der professionellen Betroffenen atmet auf. Der Massenmord von Winnenden ist geklärt: Dieser junge Mensch war krank, ein Psychopath, vielleicht sogar ein „Zombie“, wie ein Sprecher der deutschen Sportschützen ausführte, der sich ja bei seinen Waffenbrüdern auskennt; auf jeden Fall von schweren Depressionen geplagt, die sich schlussendlich in einem „erweiterten Suizid“ – welch zynischer Psychologismus! – entladen haben. Zudem, auch das passt ins genehme Bild, hatte er im Elternhaus leichten Zugang zu Waffen und Munition, ist vom Vater sogar in der „Kunst des Schießens“ unterwiesen worden – als ob die Verfügung über das Mittel zur Tat ihren Grund erklären würde. Und er war obendrein Besitzer von Computerspielen der einschlägigen Art. Das „Unfassbare“ ist damit fassbar geworden. Die seelische Störung, „seine Krankheit“, über die man dann gar nichts weiter wissen muss, erklärt nun alles.

Aus der „Unauffälligkeit“ von Tim K. – heutzutage eigentlich ein Lob für junge Menschen – ist nun ein Krankheitssymptom geworden, etwas, das in diesem Fall eben nicht normal gewesen ist. Dabei bestand die doch wohl darin, dass er wie die meisten jungen Menschen in seinem Alter seinen Schulpflichten ebenso nachgekommen ist wie den Pflichten eines Sohnes „aus gutem Elternhaus“, dass er seine Hobbys gepflegt, sich z. B. an rohen Computerspielen vergnügt und beim Tischtennisspiel offensichtlich nichts dabei gefunden hat, dass die Spielverlierer lebend das Brett verlassen konnten. Und seine „Zurückgezogenheit“ hatte ihn auch nicht daran gehindert, andere Jugendliche einzuladen und mit ihnen jenen Späßen nachzugehen, die in dieser Generation einen Unterhaltungswert besitzen. Kurz, er hat gelebt und funktioniert wie die meisten anderen Gleichaltrigen. Psycho-Fahnder, die nicht irre werden, nach jedem Amoklauf von jungen unauffälligen Menschen immer wieder aufs Neue und unbedingt „Muster“ und „Patterns“ finden zu wollen, an denen man den jugendlichen Massenmörder vor seiner Tat erkennt, um ihn aus dem Verkehr zu ziehen, stehen deshalb – doppelt – dumm da. Zum einen, weil sich diese Gilde immer wieder und ungerührt von jedem ausgeführten Amoklauf her eine „Disposition“ im Täter dazu zusammenkonstruiert und sich dann immer wieder vergeblich auf die Suche nach diesem Konstrukt in unauffälligen Mitschülern oder Kollegen macht. Zum anderen, weil sie sich dennoch fleißig dem Gedanken verweigert, dass unauffällige Jugendliche eben keine Monster oder Bestien, sondern normale Kids sind. Wie Millionen anderer machen sie ihre frustrierenden Erfahrungen in Familie, Schule und Bekanntenkreis, haben diese – wie dies Millionen anderer auch tun – in ihrem Kopf eingeschlossen, sie bis hin zu Racheplänen aufgekocht und dann in aller Regel im Geiste einige ihrer Lehrer, Vorgesetzen, Verwandten oder Bekannten „fertig gemacht“ – wie Millionen andere das täglich tun. Offensichtlich geraten sich solche Rache- und Tötungsphantasien von Kids und ihr alltägliches Funktionieren in dieser Gesellschaft erst einmal gar nicht in die Quere; es ist sogar das Ärgernis zu konstatieren, dass offensichtlich viele Menschen, junge und alte, weibliche und männliche, ihren chronisch gewordenen Alltagsfrust besser aushalten, wenn sie nach Feierabend oder Schulschluss im Geiste oder virtuell am PC ihren Chef oder Klassenlehrer umbringen, der ihnen am nächsten Tag sehr real wieder diktiert, wo es lang zu gehen hat.

Natürlich ist der Schritt von der Mordphantasie zum Massenmord nicht zwingend, ausgeschlossen aber eben auch nicht. Wenn es so ein Jugendlicher schafft, die anerzogenen Moral- und Rechtsschranken beiseite zu schieben, wenn sich sein Racheanliegen bei ihm zu einer Frage seiner Ehre ausgewachsen hat, mit der er das Wissen um die Konsequenzen seiner Tat beiseite schiebt, dann sucht er sich Mittel für seinen Rachefeldzug. „Unfassbar“ ist all das nicht, und dass sich „die Tat“ jeder „rationalen Deutung entziehe“, wie es nach jedem Amoklauf in Rahmen der ritualisierten Betroffenheitsorgien regelmäßig heißt – so etwas fällt den Wills, Plaßbergs oder Illners bei „Kollateralschäden“ auf Kriegsschauplätzen im Nahen Osten nie ein –, ist ein Urteil, das nicht zur Kenntnis nehmen will, was da passiert ist. Der Tat selbst und ihren Umständen lässt sich bereits so einiges entnehmen – vielleicht sogar schlüssiger als den Chat-Ankündigungen von Tätern, in denen sie ihre Motivlage mehr oder weniger ungeordnet ausbreiten.

So wird es wohl kein Zufall sein, wenn alle hierzulande zu unrühmlichen Ehren gelangten Amokläufer eine bzw. ihre Schule aufsuchen und dort ein Blutbad an Schülern und Lehrern anrichten. Sie haben ganz bewusst diesen Tatort gewählt und die dort arbeitenden Schüler und Lehrer als Repräsentanten einer Institution umgebracht, die sie als verletzenden Angriff auf ihre Persönlichkeit erfahren haben. Das muss man ernst nehmen und sollte es nicht als rein subjektive Deutung eines kranken Verstandes abbuchen, die mit der Wirklichkeit der Schule nichts zu tun hat. Was ist denn die wirkliche Schule? Sie ist eine Lernkonkurrenzveranstaltung, in der Lehrer über zukünftige Lebenschancen junger Menschen befinden, in der der nationale Nachwuchs nach Elite und Masse durchsortiert wird, sprich: in seiner Mehrzahl von weiterführender Bildung und d. h. von weniger unerfreulichen Berufen ausgeschlossen wird; eine Konkurrenz, deren Protagonisten wissen, warum sie am Jahresende anlässlich der Zeugnisvergabe pädagogische Seelsorge anbieten und hoffen, dass sich keiner ihrer Schüler das Leben nimmt, weil er sich „mit dem Zeugnis“ nicht nach Hause traut. Über den zu großen Leistungsdruck, dem die Kinder ausgesetzt seien, wird viel geklagt. Diese Schulkritik hat zwar gemerkt, dass es nicht einfach um Vermittlung von Wissen und Können geht, sondern um Wissen und Können als Material einer Leistungsbeurteilung, weshalb dann auch immer der Ratschlag folgt, man solle es damit nicht übertreiben. Das ist aber eine Verharmlosung, denn es kommt beim Schulunterricht nicht auf die Leistung, sondern auf den Leistungsvergleichan: Dass immer welche nicht mitkommen, ist nicht ein Nebenprodukt der Überforderung, sondern der Zweckder Veranstaltung. Der Wissensstoff soll eben nicht allen so lange erklärt werden, bis sie einen gewissen Leistungsstandard erreicht haben. Unterschiedlicher Lernerfolg wird nicht ausgeglichen, sondern bewertet und in einer Notenhierarchie festgehalten, weil Unterschiedean den Kindernhergestellt werden sollen, um sie für die Gesellschaft mit ihrer Hierarchie der Berufe und Positionen vorzusortieren.

Für diese mit ihnen veranstaltete Sortierung haben sich die Kids anzustrengen, auf die Bewährung in ihr sollen sie ihr Leben ausrichten und sich mit dem, was sie sonst noch ausmacht an Vorlieben, Bedürfnissen und Interessen bis hin zur Einteilung der Schlaf- und Freizeit dafür instrumentalisieren. So sollen sie sich um erfolgreiches Abschneiden in der schulischen Vergleicherei bemühen, obwohl schulischer Erfolg für alle von Anfang an nicht vorgesehen ist.

Dass das so ist, wird von Schultheoretikern und ‑praktikern aber gemeinhin geleugnet: Unterschiede im Wissen und Können, so ihre Behauptung, würden nicht von der Schule hergestellt, die Schule ermittle vielmehr Differenzen, die die Schüler aufgrund von Anlage und Umwelt oder Intelligenz und Leistungsbereitschaft schon in die Schule mitbrächten. Dass sie sich den Platz in der Erfolgshierarchie, die dem mit ihnen veranstalteten Leistungsvergleich vorausgesetzt ist, im Positiven wie im Negativen selbst zuzuschreiben haben, dass schulischer Erfolg oder Misserfolg Resultat ihres „Potentials“ und ihrer Leistung(sbereitschaft) ist, das lernen die Jugendlichen in der Schule „fürs Leben“.

Erfolg und Misserfolg so zu betrachten lernen Schüler in der Schule: Mit ihren Zeugnissen will die feststellen, ob und inwieweit der Schüler zu Höherem taugt, und sie legt damit fest, ob und inwieweit seine Bemühungen um Schulerfolg gefruchtet haben und er weiterer Bildung würdig ist. Dass ihm als „Mensch“ damit nicht der „Wert“ abgesprochen werden soll, muss sie dabei immer wieder betonen. Schulpsychologen haben da eine dauerhafte Aufgabe. Denn die Schüler nehmen auf der Grundlage, dass ihre Existenz ziemlich umfassend dem Bemühen um Erfolg in der schulischen Konkurrenz unterworfen ist, das Zusammen- oder Auseinanderfallen von Bemühung und Erfolg als Anerkennung oder Herabwürdigung. Wo die Schule den Schülern ins Zeugnis schreibt, was einer besser oder schlechter kann als andere, liege an ihm; wo sie die Wertschätzung, die sie den Jugendlichen ausspricht, abhängig macht von deren Bewertung im Leistungsvergleich – ‚Kannste was, biste was‘, und umgekehrt –, beharren diese darauf, dass sie auch außerhalb der offiziellen, von der Schule zuerkannten Rangordnung anerkennenswerte Mitglieder der Gesellschaft seien. Wie sehr sie sich dabei den Bedingungen der Konkurrenz unterworfen haben, zeigt sich daran, dass dieses Bestehen darauf, dass man auch außerhalb und unabhängig von der schulischen Konkurrenz Anerkennung verdient, sich in der Regel in der Eröffnung eines anderen Feldesder Konkurrenz äußert, wo man hofft, einen selbst gewählten Leistungsvergleich zu seinen Gunsten entscheiden zu können.

So ergänzen Schüler selbst die schulisch verordnete Leistungskonkurrenz, deren Zwecken sie sich unterwerfen müssen, deren Mittel – dabei handelt es sich nicht um das Lernen, sondern das zensierte Lernen – sie gar nicht in der Hand haben und deren Resultaten sie ohnmächtig gegenüberstehen, um eine eigene Anerkennungskonkurrenz, die vielen von ihnen wichtiger wird als die gute Zensur in der praktisch entscheidenden Lernkonkurrenz. In der führen sie sich als die Herren ihrer Konkurrenzmittel auf: Alle rohen Formen der Angeberei und des Mobbing – geschlechtsspezifisch sortiert – stehen dabei hoch im Kurs. Da wird geklaut und erpresst, geschlagen und ausgegrenzt, werden Schulen demoliert und Mutproben der brutalsten Art abverlangt. Gelernt haben die Kids, dass der Mensch ohne Selbstbewusstsein nichts ist, dass man also mit einer Portion Selbstbewusstsein die Zumutungen von Schule, Familie und Straße besser aushält – und nur deswegen ist das Selbstbewusstsein zum Erziehungsziel avanciert. Und das übersetzen sie sich in den Selbstbefund, irgendwie „Superstar“ zu sein, wenn nicht der „Deutschlands“, dann doch wenigstens der der Schule oder der Klasse. Der Anerkennungswahn, der sich hier austobt, erweist sich als ein Psycho-Produkt von Konkurrenzerfahrungen, das inzwischen das Privatleben derart okkupiert hat, dass jede vernünftige Bilanzierung des materiellen Gehalts einer individuellen Lebenslage nur allzu oft überlagert wird von der Frage, wie viel Beifall man für neue Klamotten, geschwollenen Bizeps, Sexual- und Saufleistungen, nebst Frech- und Rohheiten aller Art von Mitmenschen erhält, die denselben anerzogenen und inzwischen durchgesetzten geistigen Deformationen anhängen. Wenn zudem heute Schüler mit 9 oder 10 Jahren ihre Schulhefte auf Lehrergeheiß mit dem Spruch „Ich bin wertvoll!“ zieren – das fällt unter Ethik-Erziehung – , dann darf man sich endgültig nicht wundern, dass dabei der eine oder andere Robert S. oder Tim K. herauskommt. Denn wo in Schule, Familie und Umfeld vermehrt Erfahrungen gemacht werden, die diesen Spruch gerade nicht mit Material unterfüttern, wenn Niederlagen dieser oder jener Art sich vielmehr zu Frust verdichten, dann lässt er sich ebenso in die selbstzerstörerische Frage – „Bin ich wirklich wertvoll?“ – wie auch in den fremdzerstörerischen Beschluss – „Denen werde ich es zeigen, dass ich wertvoll bin!“ – umsetzen. Es schließt eben die radikalisierte Sorge ums eigene Selbstbewusstsein durchaus beide Verlaufsformen ein: die Tötung und die Selbsttötung.

Noch etwas ist der Tat zu entnehmen. Täter machen ihren „Frust“ zur Privatsache, der andere nicht nur nichts angeht, der sogar vor anderen geheim gehalten werden muss. Nicht zuletzt deswegen ist Tim K. „unauffällig“. Denn wer seine Schwächen, Beschädigungen und jene Ohnmacht offenbart, die seine tatsächliche Lage nun einmal kennzeichnen, der erfährt, dass ihm all dies als seine höchst persönliche Eigenschaft um die Ohren und manchmal nicht nur um diese geschlagen wird. Der weiß auch, dass jede zugegebene Schwäche in allen Konkurrenzlagen – solchen, an denen die Existenz, und solchen, an denen das Selbstbewusstsein hängt – von anderen brutal zum eigenen Vorteil ausgenutzt wird. Dann wird man als Schwächling, als Loser, als Opfer einsortiert und behandelt. So etwas darf nicht sein, weswegen die Welt der Heranwachsenden nur aus „coolen Typen“ besteht, die sich den psychologischen Selbstbetrug zur zweiten Natur werden lassen. Als ohnmächtige Wichte, die sie sind und bleiben, ziehen sie dann schon einmal aus der dauerhaft und quälend erfahrenen Ohnmacht den ziemlich verkehrten Schluss, selbst einmal Macht, und gelegentlich sogar Macht in seiner existenziellsten Form als Macht über Leben und Tod auszuüben.

So etwas registrieren die einschlägigen Talkshow-Runden hier und da. Jedoch nur um blöd anzumahnen, dass „wir alle“ mehr „aufeinander zugehen“, uns „mehr umeinander kümmern“ sollten und dass den Lehrern viel mehr Zeit für die lieben Kleinen eingeräumt werden müsste. Lauter Idealisierungen herrschender Konkurrenzverhältnisse werden da als konkrete Vorschläge vor allem von denen unterbreitet, die gerade eine Schulreform beschlossen haben, in denen schulischer Leistungsstress verschärft, Konkurrenz unter Lehrern institutionalisiert, Schulzeit verkürzt, das standardisierte Testwesen ins Zentrum des Unterrichts gerückt wird und allen Ernstes eine Erziehung zu mehr „Frustrationstoleranz“ jede Überlegung, was sich gegen die Ursachen des „Frusts“ machen lässt, erschlägt; die aber auch an anderen Fronten, auf dem Arbeitsmarkt, in der Berufswelt, in den Sozialsystemen, auf dem Wohnungsmarkt und in der Familie dafür sorgen, dass den Bürgern als Mittel zur Sicherung ihrer Privatexistenz allein der Weg bleibt, sich gegen andere Privatexistenzen – mit erlaubten Mitteln oder solchen am Rande der Legalität – konkurrierend durchsetzen. Da lässt sich gut „aufeinander zugehen“! Neu ist das alles nicht, aber heftiger wird’s schon. Weswegen es erneut nicht verwundern darf, dass Menschen, deren Kopf randvoll ist mit unbewältigten Lebens- und Anerkennungsproblemen, dies so lange mit sich selbst ausmachen, bis sie meinen, der Welt auf jene Weise Beweise für ihren erfundenen Selbstwert zeigen zu müssen, die sie von der Welt gelernt haben: als Machtausübung mit den Mitteln der Gewalt!