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Das hat dem politischen Ethos Reformrepublik noch gefehlt:

Volksverarmung auch noch im Dienst an der „Bewältigung der NS-Vergangenheit“!

Historiker sehen einen Grund für die Wichtigkeit ihres Fachs unter anderem darin, dass sie aus der Vergangenheit „Lehren“ für das Heute ableiten können. Um das zu bewerkstelligen, darf man sich allerdings nicht einfach nur mit den Zwecken und Mittel, die früher galten und zur Verfügung standen, beschäftigen. Man muss die zu erforschende Epoche vielmehr im Lichte einer Frage- und Aufgabenstellung betrachten., die man an sie heranträgt. Fragen und Aufgaben gewinnt ein Historiker nicht aus der zu erforschenden Epoche, sondern aus dem, was er an der Gegenwart für belehrungsbedürftig hält. Sie in der Vergangenheit aufzufinden, darin besteht seine „wissenschaftliche“ Leistung, die Vergangenheit an ihrer Lösung und Bewältigung gut oder schlecht aussehen zu lassen, darin besteht sein fachliches Urteil und aus den Verdiensten und besonders den Fehlern, die er der Vergangenheit zuschreibt, Passendes fürs Heute abzuleiten, darin besteht seine aktuelle Bedeutsamkeit. Hier ein besonders aktuelles Beispiel:

Geschichte, heißt es, ist das, was als Ergebnis ihrer Deutung herauskommt, muss also immer wieder neu geschrieben werden. Und, auch daraus macht die Kunst der Geschichtsdeutung kein Hehl, jede Neuinterpretation der Vergangenheit erfolgt nach Maßgabe des Zeitgeists, in welchem ihr Autor beheimatet ist: Das macht Geschichtsbilder – ausgerechnet – stets ‚aktuell’ und damit auch enorm brauchbar als geistige ‚Orientierungshilfe’ der Zeitgenossen. Auch Götz Alys neue Hitler-Interpretation (Hitlers Volksstaat – Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt/Main 2005) bereitet derart die Historie zur moralischen Botschaft für heute auf: Von dem sehr klassenbewussten Reformgeist Schröder-Deutschlands lässt sich „der unbequeme Denker“ (Die Welt) zu neuen Fragestellungen und „kühnen Thesen“ (Der Spiegel) inspirieren, auf dass Hitlers „nationaler Sozialismus“ (38), aber auch der heutige Sozialstaat, in einem völlig neuen Licht erscheinen können, und siehe da: Das „provokante Buch“ (Die Zeit) schafft es gleich am Erscheinungstag in die ‚Tagesthemen’ und alsbald in die Bestsellerlisten. Fragt sich nur noch, welches Bedürfnis nach frischem historischen Sinn da so erfolgreich befriedigt wird.

Aly will die alte Frage: „Wie konnte das geschehen?“ (35) ein weiteres Mal neu beantworten. Grundlage seines neuen Forschens ist somit auch für ihn die sehr grundsätzliche Antwort, die diese Frage bereits enthält: Der wuchtige Auftritt des Dritten Reiches in der deutschen Geschichte ist eigentlich ‚unvorstellbar’; wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre im Staat, hätte es so ein Verbrechen ‚im Namen Deutschlands’ nie geben können. Die Grundfrage aller Faschismusforschung lautet also des Näheren, wie es trotzdem zu der allbekannten weltkriegstauglichen Einheit von Volk und Staat kommen konnte, und diesem tiefen moralischen Rätsel, wie das an sich Unmögliche dennoch möglich war, stellt sich auch dieser Forscher: „Dass das Herrschaftsgebäude Hitlers vom ersten Tag an höchst labil gefügt war, ist bewiesen. Zu fragen ist, wie es stabilisiert wurde.“ (35) Von daher begibt sich auch er auf die Suche nach Methoden der erfolgreichen Motivierung des Volkes durch seine Führung und nach den nach Motiven des Volkes für sein erfolgreiches Mitmachen, so dass er aus dem Konsens der bürgerlichen Faschismusforschung garantiert nicht ausschert: Dass Volk und Führung sich in der politischen Sache vereint haben könnten, das Programm ‚Deutschland über Alles!’ mit all seinen Unterabteilungen womöglich deshalb bei den Massen verfangen hat, weil es sie in ihrem Nationalismus ansprach – das schließt die Frage nach den geheimen Beweggründen fürs Mitmachen ja grundsätzlich aus. Im Unterschied aber zu seinen Kollegen, die das doch so einfache Zusammenspiel von entschlossener nationaler Führung und gesunder patriotischer Gesinnung der Geführten mit den Zauberkräften von Manipulation, Verführung und Terror verrätseln, wartet Aly – im Gestus des ganz der Wahrheit verpflichteten Tabubrechers – mit einer spektakulären Reaktivierung der Kollektivschuldthese auf: Materielle Bestechung seitens des Regimes und die Bestechlichkeit seitens des Volkes präsentiert er als den Kitt, der das „Spannungsverhältnis zwischen Volk und Führung“ (35) bis zum bitteren Ende funktional gemacht hat.

Das Dritte Reich – ein „Fürsorgestaat“

Zum Beleg dieser späten Neuentdeckung präsentiert Aly zunächst eine für den Beweiszweck sorgfältig sortierte Faktenlage: Er interpretiert Hitler und sein Gefolge als „klassische Stimmungspolitiker“, die „sich fast stündlich fragten, wie sie die allgemeine Zufriedenheit sicherstellen und verbessern konnten.“ (36). Fakten- und fußnotenschwer erfährt man, wie die nationalsozialistische „Politik der volksnahen Wohltaten“ (36) ein wahres Füllhorn sozialpolitischer Gaben über die Durchschnittsarier ausgoss: Familienlastenausgleich, Ehestandsdarlehen, Kindergeld, Erhöhung des steuerfreien Grundbetrags usw. belegen die „Fürsorglichkeit des Regimes“ (38), sogar der Stand der Gerichtsvollzieher musste sich ein „soziales Empfinden“ (21) zulegen. Gleichzeitig sorgte die braune „Politik der sozialen Gerechtigkeit“ (37) für mehr Chancengleichheit und für eine höhere Aufstiegsmobilität, verordnete Sonn-, Feiertags- und Nachtarbeitszuschläge sowie eine Verdoppelung der Urlaubstage mitsamt tariflichem Urlaubsgeld. Insbesondere bei der Finanzierung ihres Krieges achteten die Nazis peinlich genau darauf, dass die ohnehin schon knappen Kassen der lohnabhängigen Volksgenossen nicht auch noch mit zusätzlichen Steuern behelligt wurden. Nun haben die Nationalen Sozialisten überhaupt nicht verhehlt, weswegen sie sich allein zu diesen ‚sozialstaatlichen’ Großzügigkeiten haben hinreißen lassen, nämlich zur Herstellung und Pflege einer ‚gesunden’ und damit leistungs- und schlagkräftigen nationalen ‚Volksgemeinschaft’. Aber da glaubt der moderne Theoretiker den einschlägigen Quellen kein Wort – für ihn sind sie ein einziger, monströs dimensionierter Bestechungsversuch der braunen Gangster: Mit einem „sozial- wie rassenimperialistisch gespeisten und kriegssozialistisch versüßten Wohlleben“ (326) „erkauften“ sich die Nazis „den öffentlichen Zuspruch oder wenigstens die Gleichgültigkeit jeden Tag neu“ (36) – andernfalls, so darf man vermuten, hätten die Deutschen an der Front und die KZ-Wächter im Hinterland wohl von einem Tag auf den anderen einen Aufstand vom Zaun gebrochen. Die gängigen Entschuldigungstheorien der Deutschen vom allgegenwärtigen Befehlsnotstand, der das an sich gute Volk zum Bösen zwang, oder von einer demagogischen Genialität des Führers, der es dazu verführte, bereichert der originelle Denker um so eine Variante, die bei aller politischen ‚Unschuld’, in der sich die Deutschen nach wie vor sonnen dürfen, ihnen doch eine gewisse moralische Mitschuld am braunen Verhängnis anzuhängen gestattet: Durch die bereitwillige und eigensüchtige Annahme sozialpolitischer ‚Vorteile’ und der damit verbundenen Akzeptanz des Unrechtsregimes hätten sie sich schuldig gemacht. Verwerflicher Materialismus wäre es gewesen, der die Deutschen zu willfährigen Helfershelfern der Schandtaten ihrer Regierung gemacht hätte – eine Interpretation der faschistischen Einheit von Volk und Führung, die freilich nur Auskunft darüber gibt, was der freiheitlich-demokratischen Überzeugung des modernen Historiographen nach in Zeiten, in denen eine Nation zusammenzustehen hat, eigentlich fällig wäre: Sachgerecht ist ein anständiger nationaler Aufbruch doch nur durch eine geschlossene nationale Kraftanstrengung, und das heißt allemal: durch eine bedarfsgerecht gesteigerte Inanspruchnahme der Massen hinzubekommen. Staatlicher Notstand – schon gleich im Krieg – gebietet doch allemal Opfer im Volk, und was muss der Historiker sehen? Verwöhnt hat Hitler seine Massen, ihnen Geschenke spendiert! Sie hat er von Kriegssteuern verschont, während die Besserverdienenden und Vermögenden belastet und sogar die exorbitanten Gewinne der Rüstungsindustrie abgeschöpft, die Körperschaftssteuer erhöht und die Hausbesitzer zu einer Sondersteuer vergattert wurden. Ein mündiges Mitglied der heutigen Reform-Republik merkt da sofort: Da steht ja alles auf dem Kopf!

Zur quellenmäßigen Stützung seiner Bestechungsthese wendet sich der Historiker den Zeugnissen der erfolgreich Bestochenen zu. Extensiv schlachtet er die landläufige Tour noch jeder nationalistischen Gesinnung aus, die das Wohl der Nation als absolute Voraussetzung des eigenen auffasst, deswegen auf eben dieses einerseits sehr prinzipiell zu verzichten bereit ist, sich andererseits aber auch noch im praktizierten Idealismus des Sich-Aufopferns für das Höhere der Nation die Perspektive wahrt, über deren Fortkommen auch das eigene zu befördern. Auf der Grundlage, dass ‚Mitmachen’ bei allen Unternehmungen der nationalen Heimat sowieso eine kategorische Selbstverständlichkeit ist, sucht und findet noch jeder Staatsbürger seine Anhaltspunkte dafür, dass sich sein nationaler Idealismus auch materiell lohnt, und so lässt sich vom Historiker auch massenhaft zweckdienliches Quellenmaterial auftreiben, das die Zufriedenheit und Freude des arischen Untertanen über alle möglichen Maßnahmen seiner neuen Führung dokumentiert. All diesen Äußerungen glaubt der quellenkritische Historiker aufs Wort: Die Leute fühlten sich gut behandelt, also waren sie es auch. Zuhauf lässt er Zeitzeugen dieser Art zu Wort kommen – der junge Literat Heinrich Böll z. B. fragt auf Dienstfahrt an der Westfront zu Hause an, was er denn Nettes per Feldpostpäckchen schicken solle -, um aus diesen lächerlichen Zeugnissen des Selbstbetrugs ordinärer Patrioten den Grund für ihr ‚Mitmachen’ bzw. für die Unterlassung ihres eigentlich zu erwartenden Widerstands zu drechseln. So kommt seine Beweisführung bzw. das Konstruktionsprinzip seines Geschichtsbildes denn auch über das ‚cui bono?’ jeder einfältigen Kriminalstory nicht hinaus, welches hinter jedem nächstbesten Vorteil, der sich aus einem Verbrechen ergibt, gleich das Tatmotiv und dahinter den Schuldigen ausmacht.

Das Resultat dieser Art Forschung reichert das deutsche Geschichtsbewusstsein allerdings mit wahrhaft bahnbrechenden Enthüllungen an: Mit kleinen Geschenken wurden die Deutschen in Krieg und Völkermord gelockt. Aus der Heimatfront wird eine Ansammlung von „Nutznießern und Nutznießerchen“ (361), aus dem menschlichen Kanonenfutter wird eine Bande „bewaffneter Butterfahrer“ (361). Das deutsche Volk, ein Heer von verhätschelten Schnäppchenjägern, das sich bereitwillig für den Endsieg verheizen ließ, solange es den nicht auch noch aus der eigenen Tasche zu bezahlen hatte, fiskalisch gerecht behandelt wurde und gelegentlich einen französischen Haushalt ausrauben durfte. Die Billigung von Weltkrieg und Völkermord hält der Mann für erschöpfend dadurch ‚motiviert’, dass Kriegerwitwen Spielsachen für die Kleinen und ausgebombte Rentner Secondhand-Klamotten abbekommen – kein Papst und auch kein Faschist könnte den Abgrund drastischer auspinseln, den die Infektion eines an sich gesunden Volkskörpers mit dem Bazillus des ‚Materialismus’ für diesen demokratischen Wissenschaftler begründet!

Krieg und Rassenkrieg – eine Gegenfinanzierung der ‚sozialpolitischen Wohltaten’

Wenn die braunen Populisten ihr „sozialpolitisches Appeasement“ (360) nur als Funktion ihres Machterhalts betrieben, was wollten sie dann eigentlich? Die Antwort liegt auf der Hand: Bloß ihre eigene Macht! Ein einziger Verrat am Staatszweck, und ein einziger Skandal für den Staatshaushalt obendrein, denn Hitlers „systematische Bestechung mittels sozialer Wohltaten“ (333) stellt nach Alys sachkundiger Beurteilung eine enorme Verschwendung dar. Und die rächt sich natürlich, weil sie natürlich, wie man heute weiß, ‚gegenfinanziert’ werden muss. Die kleinen Geschenke der „Gefälligkeitsdiktatur“ (36) zur Erhaltung der guten Stimmung im Volk erklärt Aly zum Kern von Hitlers Verbrechen, weil er darin den systemnotwendigen Grund für die Erschließung unkonventioneller Finanzquellen, sprich: für den „staatlich organisierten Großraub“ (346) erblickt: „Daraus ergab sich der immanente Zwang (!) zu Krieg und Raub.“ (353) Der Beifall, den Aly gerade auch von jüdischer Seite für seine moralische Abrechnung mit dem Materialismus seiner Landsleute bekommt, übersieht allerdings die Tücken, welche in einer solchen Motivforschung mit ihrer Trennung von Vorsatz und Tat liegen, denn obwohl sie auf nichts anderes als auf eine Dämonisierung Hitlers und seine Stilisierung zum Riesenunhold zielt, schließt sie eine nicht eben geringe Verharmlosung des Völkermörders ein: Nicht einmal er mit seiner ‚verbrecherischen Politik’ wollte hiernach den Krieg oder die Ausrottung der Juden, nein, er musste den von seinen eigenen Versprechen geweckten Materialismus der Leute mittels Raub und Mord bedienen, um sich an der Macht zu halten. So kann man Alys Geschichte auch andersherum lesen: Hitler ist bloß wegen seines Machtwillens – und welcher Politiker verfügte nicht reichlich über den! – und seiner damit verbundenen populistisch- fürsorglichen Machenschaften in die ‚unvorstellbaren Verbrechen’ hineingeschlittert: „Die Sorge um das Volkswohl der Deutschen bildete die entscheidende Triebkraft für die Politik des Terrorisierens, Versklavens und Ausrottens.“ (345)

Es bedarf keiner geringen interpretatorischen Rohheit, um zu diesem Urteil zu kommen. Gezielt ignoriert Aly die Zweckbestimmung des nationalsozialistischen ‚Volkswohl’-Programms, das unmissverständlich den Triumph eines nationalen Kollektivs namens Deutschland über seine inneren und äußern Feinde meinte und keinesfalls das – damals als ‚egoistisch’ und ‚volksfeindlich’ gebrandmarkte – Wohlergehen des Individuums. Er stürzt sich ganz auf die zweite Hälfte des Wortes ‚Volkswohl’, um aus ihr herauszulesen, dass da mit Sozialismus Ernst gemacht, also mit viel Geld und Mitteln das ‚Wohl’ der breiten Massen befördert und damit das Regime beliebt gemacht werden sollte, und so wird aus der Brutalität eines ‚Volkswohls’, welches in einem ‚ewigen Kampf ums Dasein’ kriegerisch gegen konkurrierende minderwertige Völker durchzusetzen ist, eine einzige Wohltat für die Betroffenen. Entsprechend apart gerät denn auch seine Interpretation der faschistischen Ideologie von der Einheit von Volk und Führer. In Alys Augen war das nämlich gar keine Ideologie, sondern Realität: Da setzen die Nazis ihr bis zur letzten Konsequenz ernst gemeintes Rassenprogramm in die Tat um und verwerten die jüdischen Hinterlassenschaften, plündern im Zuge ihrer kriegerischen Wiederherstellung deutscher Größe die eroberten Volkswirtschaften aus und lassen auch die Landser bei Gelegenheit auf ihre privaten Kosten kommen, und das alles nur, um einen Beitrag für die deutsche Kriegswirtschaft abzuliefern. Wie schon bei den bestochenen deutschen ‚Nutznießerchen’ dreht der Historiker die Sache ganz einfach um – und schon kommt Sinn in den ‚Wahnsinn’: Banale Beute wird zum Zweck eines Krieges, der immerhin die Gewaltverhältnisse in ganz Europa und der ganzen Welt auf den Kopf stellen sollte. So mutiert der Krieg zum „konsequentesten Massenraubmord der modernen Geschichte“ (318), als dessen Nutznießer der NS-Staat und seine deutschen „Herrenmenschen“ (318) feststehen, ein Weltkrieg findet statt, damit der Staat sich Brot und Spiele für sein Volk leisten kann, und in den Grenznutzen- Kalkulationen der aufs eigene Wohl und sonst nichts versessenen Massen finden auch Gaskammern lässig Eingang…

Der heutige Sozialstaat – eine historische Hypothek der NS-Verbrechen

Der Beitrag solch sinnreichen historischen Schwachsinns für den Moralhaushalt der Nation besteht in der Lehre, die sich aus ihm für die Gegenwart ergibt. Aly will drastisch vorführen, wie Populismus Staat und Volk ins Verderben stürzt, die Begriffe „populär und verbrecherisch“ (38) sind für ihn synonym weil sich gerade an ‚populistischen’ Zuwendungen ‚bad governance’ entlarvt. Der Begriff ‚Gefälligkeitsdiktatur’ sagt da schon alles: Staatliche Gefälligkeiten sind nicht nur vom Standpunkt des öffentlichen Haushalts verantwortungslos, sie führen sachzwangartig immer mehr ins Verderben und Verbrechen. Der einzig wirklich zu befolgende Sachzwang ist daher eine kompromisslos klassenbewusste Führung der Regierungsgeschäfte. Eine verantwortungsbewusste nationale Führung versteht sich bei Bedarf ihrem Volk gegenüber auf die Ansage von ‚Blut, Schweiß und Tränen’ und widmet im Übrigen ihre Fürsorge ganz den Geschäftsbedingungen ihrer Unternehmer. Ein Gemeinwesen, das sich marktwirtschaftlich bewähren will, verträgt einfach keine Rücksicht auf das Wohlergehen seiner Mitglieder, die Konsequenzen des Kapitalismus für die kleinen Leute mildern zu wollen, ist ein in den Abgrund führender Idealismus. Umgekehrt: Wer seinem Volk Gutes tun will, verdirbt es nur, auch das zeigt ein modern interpretierter Nationalsozialismus. Das deutsche Volk hat nicht, wie oft gemutmaßt wird, wegen eines verführten Patriotismus ‚mitgemacht’, sondern weil es viel zu wenig von diesem hohen Wert zeigte bzw. weil ihm viel zu wenig davon abverlangt wurde. So kommen nebenbei damalige Maßstäbe der selbstlosen Opferbereitschaft für Volk und Staat zu einer gewissen Ehrenrettung: Eine anständige patriotische Gesinnung ist belastbar und bedarf zur Verrichtung großer nationaler Taten keiner materiellen Zuwendungen, umgekehrt ist ein nur mittels Bestechung bei Laune zu haltendes Volk nur ein zu jeder Schandtat bereiter Haufen.

Aly will mit solchen Weisheiten nicht nur die unpopuläre Reformpolitik der jetzigen Führung Deutschlands ins historische Recht setzen, er will auch das oberste Objekt der Reformen, den Sozialstaat, ins historische Abseits stellen. Es geht ihm um die Erkenntnis der historischen Zusammenhänge, die den modernen Sozialstaat mit dem ‚dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte’ verbindet. Hitlers sozialistisches Bestechungssystem hat nämlich nicht nur in der DDR bis unlängst eine Fortsetzung gefunden, auch einige wesentliche Teile des heutigen, inzwischen zur Belastung gewordenen bundesrepublikanischen Sozialstaats wurden damals eingeführt, verdanken sich also solchen dunklen ‚Motiven’: „Nationalsozialistische Sozialpolitiker entwickelten die Konturen des seit 1957 in der BRD selbstverständlichen Rentenkonzeptes, in dem alt und arm nicht länger gleichbedeutend sein sollten.“ (20) Was lernen wir daraus? Klar: Lohnabhängigkeit darf eben nicht mit Wohlstand, sondern nur mit Armut einhergehen. „Es waren solche Gesetze, die den nationalen Sozialismus populär machten und in denen auch Konturen der späteren Bundesrepublik Deutschland durchscheinen.“ (22) Das wirft ein böses Licht auf den Sozialstaat. Haben wir womöglich wegen Hitlers Bestechungsmanöver jahrzehntelang über unsere Verhältnisse gelebt, die Konkurrenzfähigkeit der Nation heruntergewirtschaftet und müssen jetzt schmerzhafte Einschnitte hinnehmen? Ja, verkündet Aly den verwöhnten, besser: bis dato korrumpierten Deutschen, deren viel zu hohes sozialstaatliches Anspruchsniveau ebenso zu den unseligen Nachwirkungen Hitlers gehört wie ihr jammernder Widerstand gegen die fälligen Korrekturen: „Vom Kündigungs- über Mieter- bis zum Pfändungsschutz bezweckten Hunderte fein austarierter Gesetze das sozialpolitische Appeasement. Hitler zeichnete damit die politisch-mentalen Konturen des späteren Sozialstaats der Bundesrepublik vor. Die Regierung Schröder/Fischer steht vor der historischen Aufgabe des langen Abschieds von der Volksgemeinschaft.“ (Götz Aly in der SZ vom 1.9.04)

So holt die historische Ideologie die politischen Vorgaben der Gegenwart ein: Längst hat Schröder den Sozialstaat zum Abschuss freigegeben, und Historiker à la Aly gewinnen daraus die historiographische Aufgabe, die guten Traditionen, die dem Sozialstaat lange Zeit nachgesagt wurden, durch schlechte zu ersetzen: Wurde er bislang mit der glanzvollen Tradition seines Gründervaters Bismarck historisch approbiert und stellte er jahrzehntelang einen erstrangigen Beweis für die Güte des nicht manchester-kapitalistischen, sondern sozial-marktwirtschaftlichen Systems dar, so wird er jetzt in die Tradition Hitlers gestellt, damit in einen ursächlichen Zusammenhang mit den deutschen Großverbrechen gebracht und darüber historisch desavouiert. Das hat der geistigen Lage der Nation offenbar noch gefehlt: Sozialabbau im Namen der Vergangenheitsbewältigung.