Landtagswahlen in Baden-Württemberg – von wegen „Atomenergie abgewählt!“

„Die Folgen des Wahlsonntags: Atomkraft abgewählt.“ (hr-online.de)

Diese Deutung der Landtagswahlen in Baden-Württemberg zieht sich gleichermaßen durch die Kommentare der professionellen Wahlbeobachter wie der ge- oder abgewählten Politiker. Die Wahrheit über diese Wahlen ist eine andere. Das verrät schon ein flüchtiger Blick auf den Stimmzettel: Die Frage nach „Atomkraft – ja oder nein?“ wurde dem Wähler ja gar nicht zur Abstimmung vorgelegt, stattdessen eine andere. Die lautete auch diesmal so, wie sie immer lautet, und ist in ihrer Einsinnigkeit eigentlich schwer misszuverstehen: Welche der antretenden Parteien soll Regierungspartei werden? In der aktuellen Fassung: Sollen Mappus und Beck weiterregieren oder durch alternative Figuren aus der Opposition ersetzt werden?

Klar: Gerade mal zwei Wochen vor den Wahlen verwirklicht sich in Japan ein apartes „Restrisiko“, der GAU findet statt. Dieses Ereignis hatte allemal seine Wirkung auf die Motivlagen einer großen Zahl derer, die gerade zu den Urnen gerufen werden. Hinzu kommt, dass die Kanzlerin selbst sich beeindruckt zeigt, sogleich einen „energiepolitischen Schwenk“ auf die Tagesordnung setzt und entsprechend inszeniert. Es wird schon so gewesen sein, dass die Sorge, so ein GAU wie in Japan könnte auch bei uns passieren, nicht wenige Wähler dazu bewegt hat, der grünen, sich von jeher und jetzt erst recht als atomkraftkritisch profilierenden Partei ihre Stimme zu geben. Nur: Was sie mit ihrem Wahlkreuz bewerkstelligt haben, hat mit diesen Beweggründen für ihre Stimmabgabe gar nichts zu tun. Diese wie alle anderen beim Wählen gehegten Motive kürzen sich mit dem Wahlkreuz, für welchen Verein auch immer, vollständig heraus. Übrig bleibt, wie viele Stimmen die Parteien jeweils auf sich ziehen können und wie dementsprechend die Machtverteilung im Lande aussieht: Ergebnis der beiden Landtagswahlen war die Ermächtigung zweier Koalitionen zum Regieren und die Bestellung der Chefs der obsiegenden Parteien zu den obersten Repräsentanten der Regierungsgewalt. Dass Kretschmann neu inthronisiert wird und Mappus abtreten muss, ist schon das ganze Resultat der Wahl und sonst nichts.

Inhalt und Leistung der Wahl sind also das eine; die Intention des Wählers beim Wählen das andere. Was der sich zu seinem Wahlkreuz denkt, was ihn zur Entscheidung für die eine oder die andere Partei, für den einen oder den anderen Kandidaten treibt, welches Motiv er dabei für sich zum guten Grund seiner Wahl erhebt – all das kann und soll er tun. Gut ist es für nichts anderes als für die zustimmende Ermächtigung der Herrschaft von unten.

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Dieses Verhältnis von Wähler, Partei und Amt stellt in dankenswerter Deutlichkeit der neue grüne Landesvater Baden-Württembergs Kretschmann klar, kaum dass er gewählt ist:

„Als Ministerpräsident habe er zunächst die Interessen seines Landes zu vertreten, sagt er: ‚Jedenfalls werde ich mein Amt so führen. Ich bin in erster Linie meinem Land verpflichtet, und dann kommt irgendwann meine Partei, und meine Person auch ganz hinten. … So sehe ich die richtige Reihenfolge.’“ (auf www.tagesspiegel.de

Wenn das Land über allem steht, wenn Kretschmann gerade nicht als Parteipolitiker, sondern nur als „Landesvater“ agiert und so der Aufgabe gerecht wird, zu deren Erfüllung er bestellt ist, dann heißt das: In der Demokratie bestimmt nicht die Partei, die gewählt wird, wie die Staatsgewalt zu handhaben ist, sondern das Amt, um dessen Besetzung die Parteien konkurrieren, definiert, wie es auszufüllen ist. Wenn man ein Land in einem System regiert, wo alles am Wirtschaftswachstum hängt, dann ist klar, dass die Landesregierung zu allererst dieses zu befördern und alles daran auszurichten hat, in Konkurrenz zum Wachstum, das anderswo zustande gebracht wird.

Worauf Kretschmann seinem grünen Wahlvolk gegenüber pocht, kaum hat er es als Grüner erfolgreich für seine Machterlangung eingespannt, ist die Freiheit seiner errungenen staatsmännischen Verantwortung für Baden-Württemberg von jeder Verpflichtung zur Rücksichtnahme auf die Beweggründe seiner Wähler, die ja immerhin auf die im Wahlkampf noch mal extra zugespitzte Programmatik und das Image seiner grünen Partei bezogen sind. Gut und in Ordnung ist es, wenn die Partei und er als ihr Führer sich der Drangsale und Betroffenheiten des Wahlvolks annehmen, sie bedienen, vereinnahmen oder sonst wie bewirtschaften – um sie so in Wahlstimmen umzumünzen. Insofern sind die Themen Atom, Ökologie, Frieden, Bildung usw. und auch mal der Widerstand gegen die Tieferlegung eines Hauptbahnhofs für die und mit der Basis zu beackern. Dieses Verfahren der Wählerbetörung hat aber rein gar nichts mit der Ausübung des Amtes zu tun, in das das Wahlvolk ihn hievt, stellt Kretschmann klar. Wo kämen wir denn da hin, wenn man beim Regieren die Befindlichkeiten des Stimmviehs zu berücksichtigen hätte. So viel Ehrlichkeit darf ruhig auch mal sein. Dem Wähler sieht man sich insofern streng verpflichtet, als man den Wahlzetteln den Auftrag entnimmt, BaWü zu regieren und voranzubringen und sonst nichts.

Auf der anderen Seite will man sich ja in ein paar Jahren als grüne Regierung wieder wählen lassen. Kretschmann hat überhaupt nicht das Problem, dementieren zu müssen, dass er grüne Politik machen wolle und werde. Er und seine Stuttgarter Parteigenossen sind es nämlich jetzt, die, gerade indem sie Politik „fürs Land“ und sonst nichts und niemand machen, ganz praktisch definieren, wie grüne „Realpolitik“ geht. Und da vor wie nach der Wahl die grünen Programmpunkte immer schon als die bessere Variante propagiert wurden, das Landeswohl voranzubringen („…wollen unsere Wirtschaft ökologisch modernisieren, damit unsere Unternehmen auch künftig auf dem Weltmarkt vorne mitspielen“), kann man sich auch dabei getrost auf den Wähler berufen. Der „hat eine neue Politik fürs Land gewählt“; was er damit gemeint hat, hat die neue Koalition gerade in ihrem Vertrag festgelegt. Das darf der Wähler jetzt in der Zeitung nachlesen.

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Neu soll an der Politik, gerade im Unterschied zum eher als rambomäßig betrachteten Mappus, insbesondere ihr Stil sein:

„Er verspricht einen ‚neuen Politikstil’, der ‚nicht polarisiert’ und die Gräben zuschüttet. …… Offiziell lautet die Maxime: Versöhnen statt spalten.“ (www.zeit.de)

Kretschmann will die „Bürgergesellschaft“ und sich so „…heranpirschen an das Ideal der Selbstverwaltung und (…) entfernen vom Herrschaftsgedanken.“ (SZ, 18.4.) Das soll Stil seiner Herrschaft sein, zu deren Ausübung er sich durch die Wahl gerade hat ermächtigen lassen? Wie es nicht gemeint ist, macht er schon mal klar: „… (wir wollen) aber nicht den größten Debattierclub Deutschlands gründen“, und wer nach wie vor das Sagen haben soll, auch: „Wir können sicher nicht dauernd Beschlüsse umstoßen, die wird demokratisch gefasst haben. Stuttgart 21 war und ist eine Ausnahmesituation.“ (ebd.) Er und seine grün-rote Mannschaft haben jetzt das Sagen, und überall, wo unüberbrückbare Interessensgegensätze aufeinander prallen, wie z. B. bei K21 versus S21, entscheidet letztendlich der „Landesvater“ verbindlich, welche Interessen zum Zug kommen, und macht damit den Streit hinfällig. Wenn ein Landesvater zum Besten des Landes regiert, müssen alle Landeskinder einsehen, dass damit zu ihrem Besten regiert wird und alle Gräben zwischen ihnen zugeschüttet sind. So souverän die Regierung über allen Partikularinteressen in der Gesellschaft steht, so einig hat das Volk zu sein. Für die eigene Partei und deren Fußvolk mit seinen Erwartungen an die neue, grün geführte Regierung heißt das: Auch sie haben sich gefälligst am großen Ganzen zu relativieren. Um dieser Bereitschaft auf die Sprünge zu helfen verspricht Kretschmann, die Leute beim Regieren besser „mitzunehmen“. Das, was die Regierung macht, wird um die Erklärung bereichert, dass sie das nur zum Besten des Landes – und damit auch zum Besten aller Bürger macht – das ist sie schon, die tolle „Bürgergesellschaft“.

Wer wäre nun besser zum Zusammenführen aller von ihm Regierten geeignet als der Gewählte selbst? Bei ihm fällt das in Szene gesetzte Bild vom Politiker als überparteilichem Versöhner zusammen mit dem in ihm qua Amt personifizierten, über allen anderen Interessen stehenden Interesse des Landes. Nur dem ist er verpflichtet und sonst nichts und niemandem – keiner Partei, keiner Region, keinem besonderen wirtschaftlichen Anliegen und keiner sonstigen Lobby. Glaubwürdiger kann man das Volk nicht zur Einheit ermahnen. Komplementär dazu hat die Wahlniederlage eines Mappus gezeigt, dass der seines Amtes nicht würdig war: Er hat mit den Bahnchefs und der Atomlobby gekungelt und das Volk im Stuttgarter Hofgarten schlecht behandelt. Er war als Partei-Mann und Spalter unterwegs, nicht als Landesvater und wurde deshalb gerechterweise vom Volk aus dem Amt gewählt.

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