Das Arbeitsministeriums hat eine „volkswirtschaftliche Gesamtrechnung“ veröffentlicht, die u. a. ein durchschnittliches Nettorealeinkommen der Arbeitnehmer von 1320,24 Euro pro Monat für 2006 bilanziert. Die Presse klärt auf, was die Statistik zu bedeuten hat.
1.
Für die Bildzeitung signalisiert sie einen „Netto-Lohn-Skandal“:
„Wir arbeiten und arbeiten – und bekommen am Monatsende gefühlt immer weniger Netto raus! Geht es ihnen auch so? Kein Wunder – denn es stimmt! Das belegen die neuen Zahlen des Bundesarbeitsministeriums. Demnach verdienen Arbeitnehmer in Deutschland so wenig wie seit 20 Jahren nicht mehr!“ (24.9.07) „Warum immer weniger in den Taschen der Arbeitnehmer ankommt“, liegt daran, dass der Staat „dreister in die Tasche“ greift, die Unternehmer mehr „geizen“ und die Beschäftigten in einer „Inflationsfalle“ stecken.
Arbeitnehmer, die jahrzehntelang die von ihnen verlangten Leistungen erbringen und weiter kein Aufhebens davon machen, dass immer weniger ‚rauskommt’, genießen die volle Sympathie der Bildzeitung. Deren Unzufriedenheit über die eingerissenen Lebensverhältnisse gibt sie recht, stachelt sie sogar ein wenig an und macht sich zum Wortführer eines Beschwerdewesens über ungerechte Behandlung, die sich für ‚unser’ Land eigentlich nicht gehöre. Dass Staat und Unternehmer mit ihrer Macht über sämtliche gesellschaftlichen Einrichtungen die bekannte Rücksichtslosigkeit gegenüber den Lebensbedürfnissen der Lohnabhängigen praktizieren, soll sie nicht als Gegner der Arbeiterinteressen qualifizieren, sondern als Adressat für die Aufforderung zu deren Berücksichtigung. Eine grandiose Umkehrung – aber genau so soll es der Leser sehen: Die tonangebenden Instanzen im Land werden bei der egoistischen Verfolgung ihrer Interessen ‚maßlos’ und weichen darin von ihrer angeblichen eigentlichen sozialen Verantwortung ab. In deren anerkannter Zuständigkeit liegt es demnach auch, klaffende ‚Gerechtigkeitslücken’ wieder zu schließen. Für die Opfer deutscher Standortpolitik bleibt die Rolle der ohnmächtig Betroffenen. Kein Gedanke daran, dass sie sich gegen ihre Verarmung zur Wehr setzen könnten. BILD verschafft ihrer Empörung stellvertretend einmal öffentliches Gehör und damit haben sie zufrieden zu sein.
2.
In der Tour, Unzufriedenheit recht zu geben, um sie damit abzuwiegeln, sieht die ‚seriöse’ Presse allen Ernstes einen Angriff auf das Image ihres geliebten Systems. Dass auf ihre Marktwirtschaft irgendein schlechtes Licht fallen könnte, hält sie einfach nicht aus – und legt sich argumentativ mächtig ins Zeug.
Vor gar allzu kurzschlüssiger Sichtweise, wie sie „die fette Schlagzeile eines Boulevardblatts“ (25.9.) nahe legt, warnt die Süddeutsche Zeitung tags drauf. Jene mag sich zwar mit dem „Empfinden der Bürger“ decken, nach sorgsamer Berücksichtigung des volkswirtschaftlichen Kontextes jedoch kommt man in Münchner Redaktionsstuben zu einem differenzierteren Befund.
„Richtig daran ist zunächst, dass die Löhne seit Jahren langsamer steigen als etwa die Unternehmensgewinne oder die Kapitaleinkünfte. Ein Grund dafür sind niedrige Tarifabschlüsse , die – gepaart mit Steuer- und Abgabenerhöhungen – die verfügbaren Einkommen der Arbeitnehmer geschmälert haben. Auf der anderen Seite hat das dazu geführt, dass die deutschen Unternehmen heute zu den wettbewerbsfähigsten der Welt zählen und wieder mehr Menschen einstellen.“
Armut ist also nur die eine, quasi die Schattenseite eines insgesamt gelungenen Gesamtkunstwerks. Die Verarmung der Leute war nämlich auch produktiv, hat sie doch andere reicher gemacht! Was ja auch deswegen sein Gutes hat, weil die Nutznießer der billig entlohnten Arbeit auch noch mehr schlecht bezahlte Arbeitsplätze schaffen. So besehen kann Armut nun wirklich kein schlechtes Licht auf den deutschen Kapitalismus werfen.
Aber damit nicht genug. Die SZ will nicht einmal eine Spur von einer Schattenseite stehen lassen. Genau betrachtet führt deshalb die „zugrunde liegende Statistik in die Irre“:
„So wird suggeriert, dass die Menschen heute ärmer wären als 1986. Tatsächlich aber ist die Kaufkraft gleich geblieben. Der Durchschnittsbürger kann sich von seinem Gehalt also genau so viele Fernseher oder Autos leisten wie seinerzeit.“
Reicher sind die Leute nicht geworden – aber auch nicht ärmer! Das ist doch mal ein Argument gegen die Miesmacherei der Bildzeitung. Dass der Nutzen von zwanzig Jahren Produktivkraftsteigerung, die ‚Fernseher’ und ‚Autos’ heute in einem Bruchteil der Zeit entstehen lässt, offenbar vollkommen an den – noch nicht entlassenen – Arbeitern vorbeigegangen ist, ist dem Autor eine Selbstverständlichkeit. Der weiß eben, was einem Lohnarbeiter zusteht.
So viel zum „Durchschnittsbürger“. Hinsichtlich des Mangels einer Durchschnittsbetrachtung möchte der Kommentator den Leser dennoch nicht im Dunkeln lassen:
„Über die wahren Verhältnisse im Lande sagt diese Durchschnittsbetrachtung zudem nur wenig aus, vor allem deshalb, weil sich das Gehaltsgefüge durch die Einrichtung eines Niedriglohnsektors in den letzten 20 Jahren erheblich ausgeweitet hat. Konkret: Viele Menschen verfügen heute über weniger Kaufkraft als 1986, viele andere dagegen über deutlich mehr.“ Eine Durchschnittsrechnung hat nämlich die Eigenart, dass es – wer hat eigentlich das Gegenteil behauptet? – Abweichungen nach oben und nach unten gibt: Der Zunahme von Armut stehen auch Gewinner mit Einkommen oberhalb des Durchschnittsnettolohns gegenüber. Deswegen, und weil es überhaupt einen ganz neuen Sektor gibt, in dem Niedrigstlöhne gezahlt werden, lassen sich aus der Statistik keine gültigen Schlüsse über Armut ziehen; wer das trotzdem macht, folgt keinen aufklärerischen, sondern niederen Motiven.
„Insofern taugt die Statistik zwar für eine dicke Schlagzeile. Einen wirklich erhellenden Beitrag zur Diskussion über Mindestlöhne auf der einen sowie Steuer- und Abgabensenkungen auf der anderen Seite aber leistet sie nicht.“
Dass es Bild in ihrer „fetten Schlagzeile“ vielleicht um etwas anderes gegangen sein könnte als um eine qualifizierte Wirtschaftsberatung nach SZ-Muster, geht in den Journalisten-Schädel einer deutschen Intellektuellenzeitung einfach nicht hinein. Der ‚populistischen’ Publikumsbetreuung des „Boulevardblattes“ musste man jedenfalls mal entgegensetzen, dass Armut heutzutage differenzierter betrachtet werden muss!
3.
In der Redaktion der FAZ hat man folgendes herausgefunden: von wegen ärmer – reicher sind sie geworden, die Arbeitnehmer! Es kommt nämlich nicht nur darauf an, z.B. die passenden Vergleichsjahre zu wählen, sondern die richtige Bezugsgröße. Betrachtet man nämlich die Statistik, die das Einkommen ins Verhältnis zur Arbeitszeit setzt, sieht die Sache schon ganz anders aus.
„Die Arbeitnehmer in der Bundesrepublik sind in den zurückliegenden beiden Jahren ‚ärmer’, im gesamten Zeitraum seit der Wiedervereinigung aber insgesamt ‚reicher’ geworden, wenn auch ‚nur’ um 6,2 Prozent. Das geht aus Zahlen des Statistischen Bundesamts hervor, die neben der Einkommensentwicklung auch die seit 1991 gesunkene Arbeitszeit berücksichtigen. … Dadurch relativiert sich der Befund, dass die Nettorealverdienste im vergangenen Jahr auf den Stand von 1997 gesunken seien“ (FAZ vom 25. September).
Die Leute kriegen zwar weniger Geld, das aber auch in weniger Zeit! Da hat die FAZ ja wirklich mal was ganz Aussagekräftiges gefunden.
„Die Berechnung des realen Nettoverdienst je Stunde ist auch deshalb aussagekräftiger als die Betrachtung je Arbeitnehmer, da sie wenigstens teilweise die Verzerrungen ausschaltet, die sich durch die Veränderungen in der Beschäftigungsstruktur ergibt – etwa von mehr Teilzeitbeschäftigung, Mini-Jobs und Ein-Euro-Kräften.“
Ja wenn es immer mehr und als feste Einrichtungen eingeplante Arbeitsverhältnisse gibt, von denen man nicht leben kann, dann darf man die Statistik doch nicht auf den Lebensunterhalt beziehen, der den Leuten zu Verfügung steht. Da verzerren die Minijobs ja glatt die Bilanz in Richtung Armut! Also muss man das Ganze so, nämlich auf Stundenlohnbasis, betrachten, dass keine Verzerrung dabei rauskommt.
Ein Ein-Euro-Jobber kann dann zwar nicht von seinem Stundenlohn leben, dafür aber ein Teilzeitarbeiter – wenigstens ein paar Stunden.