Aufruhr in Frankreichs Vorstädten

Freche Paupers – starker Staat

„Der Pauperismus bildet das Invalidenhaus der aktiven Arbeiterarmee und das tote Gewicht der industriellen Reservearmee. Seine Produktion ist eingeschlossen in der Produktion der relativen Übervölkerung, seine Notwendigkeit in ihrer Notwendigkeit, mit ihr bildet er eine Existenzbedingung der kapitalistischen Produktion und Entwicklung des Reichtums. Er gehört zu den faux frais der kapitalistischen Produktion, die das Kapital jedoch großenteils von sich selbst ab auf die Schultern der Arbeiterklasse und der kleinen Mittelklasse zu wälzen weiß.“ (Karl Marx, Das Kapital, Band I, S. 673)

Mitten in der schönsten „Globalisierung“ erlebt Frankreich den ziellosen Aufstand eines besonders schlecht gelittenen und behandelten jugendlichen Teils seiner relativen Überbevölkerung:

In Relation zum Bedarf des nationalen Kapitals ist eine Menge französischer Bevölkerung schlicht überflüssig; keine bloß vorübergehend freigesetzte Reservearmee von Arbeitskräften, die beim nächsten Konjunkturaufschwung wieder nachgefragt werden, sondern schlechterdings dauerhaft zu viel. Wen dieses politökonomische Schicksal trifft, das entscheidet die berechnende Willkür privater und öffentlicher Arbeitgeber in Verbindung mit einer staatlichen Sozialpolitik, die dem nicht benutzten und entsprechend verelendenden Fußvolk mit ein paar Euros und der Unterbringung in schäbigen Vorstädten behilflich ist und zu einer Karriere nach unten verhilft. Wie von selbst trifft diese Aussortierung in erster Linie und von Generation zu Generation immer schärfer Immigranten aus Ex-Kolonien und -Protektoraten der Grande Nation, in denen das auch im französischen Volk fest verankerte staatsbürgerliche Unterscheidungsvermögen unschwer den eigentlich nicht richtig dazugehörigen, tendenziell minderwertigen Menschenschlag erkennt – Ausnahmen bestätigen die Regel. Das Ergebnis schreibt die Staatsgewalt praktisch fest, indem sie diesen gesamten Bevölkerungsteil nach seinem gegen Null tendierenden Beitrag zum Bruttosozialprodukt behandelt und den in kriminelle Karrieren abgedrängten, aber auch den sonst mit seinem unnützen Dasein an allen Ecken und Enden bloß störenden Nachwuchs als leibhaftiges Ordnungsproblem anpackt, also kontrolliert und schikaniert:

„Die gehen nur nach dem Aussehen und be- „ schimpfen dich. Selbst wenn du dich ausweisen kannst, schlagen sie dir den Ausweis aus der Hand und drücken dich mit dem Gesicht gegen die Wand. Dann ziehen sie dich fast aus und greifen dir in den Intimbereich, um nach Drogen zu suchen.“ (SZ, 10.11.05)

Die Betroffenen, zum größten Teil tatsächlich mit einem französischen Pass und dem trotzigen Bewusstsein ausgestattet, genauso gut wie alle ehrbaren Bürger zu dem Gemeinwesen dazuzugehören, das sie gnadenlos ausgrenzt, stecken voller gerechter Empörung:

„Ständig heißt es, wir müssten dies und das respektieren. Aber wer respektiert uns? Solange wir uns still halten, kümmert man sich einen Dreck um uns!“ (NZZ Online, 6.11.)

Die macht sich Luft: mit Randale gegen die Staatsgewalt ohne politisches Ziel und ohne politischen Gegner; ein Wutausbruch, für den der Tod von zwei Halbwüchsigen auf der Flucht vor der Polizei den Anlass, die gehässig-militante Diktion des Ministers die Stichworte liefert. Die sporadisch laut gewordene Forderung nach Rücktritt des Innenministers ist nicht mehr als eine beleidigte Reaktion auf dessen Rede vom wegzuputzenden Abschaum. Witzigerweise deckt sie sich mit der einer unzufriedenen Öffentlichkeit, die der Obrigkeit vorwirft, die Randale nicht im Handumdrehen in den Griff zu bekommen.

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Die Antwort des Staates ist eindeutig. Er behandelt die Randale – so wie das übliche Herumlungern und die Alltagskriminalität in seinen Cités, natürlich potenziert – als Verstoß gegen die öffentliche Ordnung und haut mit seinen Polizeikräften, durch die Aktivierung eines alten Ausnahmerechts von rechtsstaatlichen Rücksichten freigesetzt, so lange drauf, bis den Randalierern die Lust zum Weitermachen vergeht. Dann packt die Obrigkeit – programmatisch und demnächst wohl auch praktisch – eine sozialpolitische Initiative obendrauf, die mal wieder niemand zynisch findet: Ermuntert durch die sozialistische Opposition, finanziell unterstützt – man denke: Brüssel hilft Paris! – durch die EU-Kommission, plant die Regierung Maßnahmen zur besseren Integration der aus dem Ruder gelaufenen Youngster in den Vorstädten. Das Arsenal von Kontrolle und Schikane wird ergänzt durch das Angebot, sich freiwillig in die Rolle der relativen Überbevölkerung hineinzufinden und friedlich darin einzurichten: schon als Kind auf ein paar von netten Sozialarbeitern betreuten Bolzplätzen, wo jeder Knirps von einer Zukunft als Zinedine Zidane träumen kann; als Schüler mit einer Hausaufgabenhilfe als Anlaufstelle; als Heranwachsender an einer Lehrstelle, die ihrem Inhaber zwar keine Zukunft als wertvolle Arbeitskraft eröffnet, aber Disziplin beibringt, bzw., weil solche Stellen rar sind und absehbarerweise bleiben, in einem neu zu schaffenden Zivildienst… Dann, so das Programm, ist die gefährliche Lebensphase vorbei, in der die Menschen zu Aufmüpfigkeit neigen; dann hat man sie ans Stillhalten gewöhnt; dann stellen die Paupers in den Quartieren, wo man sie endgelagert hat, nichts mehr an, was ordentliche Bürger aufschreckt. Die Staatsgewalt bemächtigt sich planmäßig des noch unfertigen Willens ihrer nachwachsenden Überbevölkerung, bis sie sich sicher ist, dass er fertig angepasst ist und das „tote Gewicht“ unauffällig herumhängt und Ruhe gibt: Integration auf den Punkt gebracht.

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Und Frankreich wäre keine Demokratie, wenn die Macher an der Staatsspitze nicht noch einen speziellen Zynismus draufzusetzen wüssten: Wo Gewalt tobt, vor allem die Ordnungsgewalt des Staates, da ist der verantwortliche Politiker nicht fern, der sich als energisch zupackender Befehlshaber in Szene setzt, und erst recht nicht der Konkurrent, der dem Verantwortlichen Versagen vorwirft. In einer anständig funktionierenden Demokratie ist Elend dazu da, dass die Staatsgewalt es im Griff hat: An dem Kriterium profiliert sich der zuständige Minister als kommender Präsidentschaftskandidat, blamiert ihn die Opposition, und das Publikum bekommt eine Entscheidungshilfe für sein Wahlverhalten.

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Die pluralistische Öffentlichkeit genießt diesen Konkurrenzkampf, vollzieht seine Winkelzüge sachverständig nach und mit und am liebsten im Voraus; sie ergeht sich daneben voller Begeisterung in tiefster Sorge um die öffentliche Ordnung, überbietet sich in Rezepten zur staatsbürgerlichen Gesinnungspflege; im Übrigen lebt sie ihren Pluralismus in tief schürfender Ursachenforschung aus. Denn kaum hat sie einmal inmitten des schönsten Kapitalismus ein Stück satter Verelendung zur Kenntnis genommen, widmet sie sich hingebungsvoll der Identifizierung der Gründe, warum diese Lebenslage ein paar Nächte lang mal nicht geduldig hingenommen worden ist. Hat man vielleicht zu wenig Integrationsangebote gemacht? Ist man auf linke Gleichmacherei hereingefallen, die von volkscharakterlichen De-fiziten bei Immigranten nichts wissen will, und hat deswegen nicht rechtzeitig vorgebeugt? Ist doch der Islam/ismus schuld? Stecken Terroristen oder doch bloß die Drogenmafia dahinter? Liegt es an der Polygamie unter ungeeigneten Wohnbedingungen? Vielleicht überhaupt an der Architektur, der seelenlosen?

Letzteres wird es wohl sein. Etliche Wohnblocks hat die Regierung vor einiger Zeit schon sprengen lassen.

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Rechts des Rheins ist man aufgeschreckt, aber nicht übermäßig und außerdem genauso sicher wie in Frankreich, was zu tun ist. Elendsquartiere hat man auch genügend; die relative Überbevölkerung, die sie bevölkert, rekrutiert sich auch hierzulande aus den „zugereisten“ niederen Teilen der Arbeiterklasse; und ob auf die türkische Integrationsfähigkeit mehr Verlass ist als auf die maghrebinische, steht noch dahin:

„’Auch wenn die gesellschaftliche Realität bei uns anders ist, sollten wir uns nicht der Illusion hingeben, dass so etwas wie in Frankreich bei uns nicht geschehen könnte’.“

Aber nicht nur Herr Bosbach von der C-Fraktion im Bundestag weiß das Rezept:

„Notwendig seien drei Schritte: Erstens müssten die Integrationsbemühungen verstärkt werden. ‚Zweitens müssen wir das Straf- und Ausländerrecht konsequent anwenden. Und drittens wird es Zeit, dass wir viel genauer hinsehen und hinhören, was sich da hinter verschlossenen Türen in den Moscheen abspielt.’“ (FAZ, 5.11.).

Dann kann mit der fortschreitenden Verelendung des „toten Gewichts“ nichts mehr schief gehen.

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