Das Referendum in Frankreich
Das Referendum in Frankreich war, so sehen es die maßgeblichen europäischen Politiker, eine Entgleisung. Eigentlich sollten die Franzosen ihrer Regierung vertrauen und mit ihr der Auffassung sein, dass Frankreich mit Europa gut fährt. Zum Zeichen dafür sollten sie der Verfassung zustimmen und damit auch einen weiteren Schritt in Richtung „geeintes Europa“ tun. Wesentliche Teile des sogenannten „linken“ wie auch „rechten Spektrums“ – die sozialistische Partei hat sich bei dieser Frage sogar gespalten – waren aber nicht dieser Auffassung und haben für ein ‚Non‘ gesorgt. Die „Süddeutsche Zeitung“ wird schon recht haben, wenn sie schreibt:
„Es handelt sich um eine Melange aus Frust über die Massenarbeitslosigkeit, Angst vor der EU-Osterweiterung und Abneigung gegen Reformen. Die Franzosen haben Nein zur Verfassung gesagt, gemeint haben sie vor allem Nein zu Jobverlagerung und polnischen Klempnern… Offenbar erwarten die Menschen von ihren Politikern, das Land vor Einflüssen von außen abzuschotten.“ (4./5.6.)
Gemerkt haben die Franzosen, was auch nicht allzu schwer ist, dass einheimische Firmen ihre Produktion in die neuen EU-Staaten verlagern und damit ein weiteres Mal zur nationalen Arbeitslosigkeit beitragen und dass sich im Zuge dieser „Marktöffnung“ osteuropäische Billiglöhner um die bislang Einheimischen vorbehaltenen Arbeitsplätze bewerben und den eh schon vorhandenen Druck auf die Löhne verstärken. Aber wie kommen sie dann darauf, von ihrem Staat Schutz zu verlangen? Das kritische ‚Non‘, das dem Staat Versagen und zu große Nachgiebigkeit gegenüber „Brüssel“ vorwirft, drückt nichts anderes aus als das Vertrauen, dass der „eigene“ Staat eigentlich für diesen Schutz zuständig wäre, dass es seine Aufgabe wäre, seinen Franzosen eine gewisse „soziale Sicherheit“ gegen unliebsame auswärtige Ein- flüsse und gegen einen – angeblichen – „Druck Europas“ zu verschaffen. Das ist nebenbei bemerkt keine französische Spezialität, sondern eine bei den europäischen Bürgern, auch bei den deutschen, sehr weit verbreitete Meinung. Wie kommen sie darauf, dass ein nationaler, sich „vor äußeren Einflüssen abschottender“ Kapitalismus für sie von Vorteil, wenigstens das „kleinere Übel“ wäre. Ist das überhaupt eine Vorstellung, die mit dem Kapitalismus, wie ihn der demokratische Staat durchsetzt und garantiert, verträglich ist?
Was der französische Staat und französische Kapitalisten vorher, vor der letzten „Marktöffnung“ und während der bis dahin betriebenen „europäischen Einigung“, veranstaltet haben, war den Franzosen keine Ablehnung, zumindest keine 55-prozentige, wert. Da galt es als richtig und selbstverständlich, dass sich der ‚Standort Frankreich‘ im „internationalen Wettbewerb“ bewähren musste und dass dafür in diesem Standort die höchstmögliche Kapitalproduktivität herzustellen war. Da war es den Franzosen geläufig, dass dafür ihre Dienstbarkeit, also gute Arbeitsleistung zum Wohle einer bestmöglichen Auslastung der kapitalistischen Betriebsstätten und niedrige Lebenshaltungskosten zum Wohle der kapitalistischen Betriebsrechnung, vorausgesetzt war und ihnen täglich abverlangt wurde. Darüber hat sich höchstens eine kleine Minderheit beschwert, der große Rest hat das mit dem üblichen, wiederum allen europäischen Bürgern vertrauten Gedanken abgehakt: „Davon hängen wir doch alle ab“ und „Ohne das Florieren der kapitalistischen Betriebsstätten und Bilanzen gibt es keine Beschäftigung, auf die wir schließlich als unser einziges Lebensmittel angewiesen sind“. Auch nicht auf Kritik, sondern im Gegenteil auf Zustimmung traf, dass erfolgreiche französische Kapitalisten sich auf ausländische Märkte begaben und sich dort menschliche, sachliche und natürliche Ressourcen zu eigen machten, damit ihre Überlegenheiten bewiesen und ihren Erfolg eben so wieder vorantrieben. Das wiederum wurde als Ausweis für die Überlegenheit ihres heimischen Standorts und unbedingt nötig für die „Sicherung der Beschäftigung“ begrüßt . Da wurde die Erschließung der Welt fürs nationale Kapital betrieben, und das galt als der kapitalistische Sachzwang, das kapitalistische Erfolgsprinzip schlechthin – ohne Ausdehnung des französischen Kapitals kein französisches Wachstum. Und schließlich war es doch jedermann bekannt und recht, dass für dieses Eroberungsprogramm genau dieses jetzt angefeindete Europa erfunden und aufgebaut worden war, dass es Beschluss und Tat der europäischen Staaten war, die Mobilität des Kapitals anzuheizen und ihr Raum zu verschaffen, und dass sich der französische Staat eben aus Fürsorge für seinen Standort für Europas geballte Welt-Wucht an vorderster Front einsetzte.
Wie kommt es nun, dass diese Auslandseinsätze des Kapitals, speziell der Kapitalexport in osteuropäischen Staaten, in die Kritik geraten? Wie kommt es, dass das, was früher einmal gut war – die Billiglöhne und niedrigen Steuern, die den zu erobernden Staaten abverlangt wurden jetzt „unfair“ ist und zu den negativen „Einflüssen von außen“ zählt? Wie kommt es, dass eine Steuergesetzgebung, durch die der Export von Kapital in andere Länder steuerlich begünstigt wird, weil sich nämlich der Staat davon einen ökonomischen und politischen Machtzuwachs seines Standorts verspricht, jetzt verständnisloses Kopfschütteln oder gar Kritik hervorruft?
Der Grund wird einem täglich von Politikern und von Presse, Funk und Fernsehen mitgeteilt: Der angestrebte nationale Erfolg dieses „Marktöffnung“ genannten Eroberungsprogramms stellt sich nicht ein. Die osteuropäischen Nationen spielen ihre Rolle nicht, ein Zusatz zum Wachstum der Kapitalentsendestaaten zu sein. Das liegt nicht an ihnen, sondern daran, dass das europäische Unternehmen mit der beständigen Steigerung ihrer Produktivität und mit ihrer erfolgreichen Ausdehnung eine Warenmenge produzieren, die sich auf dem zur Verfügung stehenden Markt nicht mehr gewinnbringend absetzen lässt. Europa- (und welt-) weit hat sich das Kapital in eine seiner immer wieder auftretenden Krisen gewirtschaftet. Das heißt freilich nicht, dass die Kapitalisten keine Gewinne mehr machen. Sie machen sie gerade damit, dass sie ihre Produktion in die Länder mit den besonders niedrigen Löhnen und Steuern verlagern, um dort diese kostengünstigen Produktionsfaktoren zu nutzen. Niedrigere Produktionskosten ermöglichen es, über niedrigere Verkaufspreise Konkurrenten aus dem Markt zu drängen, deren bisherigen Marktanteile auf sich zu ziehen und denen die fällige Kapitalentwertung aufzudrücken. Und sie reduzieren reziprok die Produktion an den altgedienten Standorten, weil sich dort zusätzliches Kapital nicht mehr profitabel anlegen lässt, weswegen die „Wirtschaft“ dort nicht nur nicht wächst, sondern mancherorts sogar schrumpft.
Die alt-europäischen Staaten, die feststellen müssen, dass die kapitalistischen Auswärtsspiele nicht zu nationalem Wirtschaftswachstum führen , denken nicht daran, dem Kapitalexport Steine in den Weg zu legen. Vielmehr eröffnen sie gegen die auswärtigen Billiglöhne ihrerseits eine Billiglohnkonkurrenz. Das ist die zynische und systemgemäße Antwort auf das Sonderangebot der Neu-Europäer, die in Frankreich zur Zeit vielleicht etwas gedämpft, hierzulande aber von Schröder bis Merkel beinhart daherkommt: Mit Kosten- = Lohnsenkung kämpfen sie gegen den osteuropäischen Standortvorteil an, um ihn zu unterbieten und so zunichte zu machen. Sie wollen den dortigen Staaten das Wachstum, das da stattfindet, streitig machen, sprich: wieder auf den eigenen Standort zurückbefördern. In den offiziellen Verlautbarungen wird gerne vom „Beitrag“ der neuen Länder zum „gesamteuropäischen Wachstum“ gesprochen, in Wahrheit geht es aber darum, deren unliebsame Konkurrenz auszuschalten, Wachstum vom „falschen“ an den „richtigen“ Ort zu lenken, also den Kapitalisten unschlagbare Angebote zu unterbreiten – und das bedeutet heutzutage: die Waffe eines Staates in dieser Konkurrenz ist die Verarmung, die er seiner Bevölkerung aufzwingen kann. Deswegen werden die Armutsgestalten, die sich aus dem Osten hierher schlagen, auch nicht zurückgewiesen: Sie helfen mit, das neue Armutsniveau herbeizuführen. Ihre Billigstlöhne liefern dem nationalen Kapital die unschlagbaren „Argumente“ dafür, jeden darüber hinausgehenden Lohn als Hindernis für „rentable Arbeit“ zurückzuweisen und so seine Senkung herbei zu wirtschaften.
Ausgerechnet von einem solchen Staat verlangen die Franzosen nun Schutz, wünschen sich von ihm einen „sozial gebändigten“ oder „gemäßigten“ Kapitalismus – gerade so, als ob er auch alles unterlassen könnte und womöglich wollte, was er selbst ins Werk gesetzt hat. Dabei war es genau dieser „sozial gebändigte“ Kapitalismus, den sie sich nun zurückwünschen, mit dem ihr ‚Standort Frankreich‘ dazu befähigt wurde, den internationalen Standortvergleich nicht nur auszuhalten, sondern ihn voranzutreiben. Mittel für das Bestehen im internationalen Wettbewerb waren die Kostengünstigkeit und Leistungsintensität, die gerade der „sozial gebändigte Kapitalismus“ den französischen Arbeitern abverlangt hat. . Darunter haben sie nun zu leiden und wissen, streng nationalistisch, nichts Besseres, als sich vom französischen Staat Schutz gegen außerfranzösische Übergriffe zu erhoffen. Damit nehmen sie ihn nicht als das, was er ist: Ein Apparat, der dafür da ist, sie als dienstbares Volk fürs französische Kapital herzurichten und ihm auf dieser verlässlichen Grundlage auch und gerade mit dem Einsatz für das Projekt Europa die internationalen Türen und Tore zu öffnen. Vielmehr teilen sie ihm wider alle Erfahrung die Aufgabe zu, fürs Auskommen französischer Bürger zu sorgen und machen mit ihrem „Nein“ den Bock zum Gärtner.