III. Der deutsche Imperialismus
Für ihr „freundliches Gesicht“ gegenüber den Flüchtlingen hat Merkels Land viel Lob und Dank geerntet – nicht nur von Merkel selbst oder von den Flüchtlingen, die froh sein können, ihre Flucht überlebt zu haben, sondern auch von der höchsten irdischen Instanz, vom Chef der amerikanischen Supermacht. Vor der in New York versammelten Staatenwelt ehrt Obama die Deutschen und Merkel persönlich für ihre „außerordentliche Unterstützung für die Flüchtlinge“ und für ihre „andauernde Führung“ in der Flüchtlingsfrage. Zumal „eine solche Politik zwar schwierig, aber richtig ist.“ Die deutsche Regierung fühlt sich bei solchen Komplimenten bestens verstanden. Überhaupt meinen deutsche Politiker, dass es einem Land wie dem ihren durchaus angemessen ist, wenn es vorangeht; und dass alle anderen gute Gründe haben, ihm hinterher und in den ihnen vorgezeichneten Bahnen zu laufen, auch wenn sie das nicht gleich einsehen. Deutschland will nicht nur, sein Erfolg verpflichtet es auch dazu, zukünftig „mehr Verantwortung in der Welt“ zu übernehmen. Was diese Phrase für seine regierenden Verantwortungsträger eigentlich bedeutet – davon legen sie schon heute täglich Zeugnis ab, und zwar gar nicht erst und gar nicht nur in der Flüchtlingsfrage.
1. Unser Euro und unser Europa
Die Verantwortung, die sie meinen, fängt jedenfalls nicht mit dem Elend der Welt, sondern mit dem Reichtum der deutschen Nation an. Weil der sich seit einiger Zeit in einem Geld beziffert, das nicht mehr nur deutsch, sondern europäisch ist, steht für Deutschland fest, dass es für dieses Geld mehr Verantwortung tragen muss, als bloß auf den Erfolg seiner Wirtschaft und die Schulden seines Haushalts zu achten. Deutsche Politiker pflegen von Haus aus das Bewusstsein, dass der Euro ihr Geld ist, das ihre Euro-Partner auch gebrauchen dürfen; dass die gemeinsame Währung Mittel und Ausdruck deutscher Stärke zu sein hat, die die anderen mindestens nicht belasten dürfen. Ebenso klar ist ihnen, dass mit genau diesem Anspruch auch den Eigeninteressen – den ‚wohlverstandenen‘ – der Partner am besten gedient ist, und gerade in letzter Zeit haben sie reichlich Gelegenheit gefunden, ihnen genau das zu versichern: Wenn das Geld, in dem alle gemeinsam wirtschaften, von einer Krise heimgesucht wird und eine Reihe von Euro-Mitgliedern zahlungsunfähig werden, dann begleiten deutsche Euro-Politiker ihr ‚Rettungsprogramm‘ und dessen milliardenschwere Kreditpakete mit viel Gerede über die ‚Solidarität‘, die die anderen, schwächeren Mitglieder der Eurozone brauchen und die das starke Deutschland ihnen in der Stunde der Not schuldet. Sie machen allerdings kein Geheimnis daraus, dass es dabei in erster Linie und in letzter Instanz um den deutschen Retter selber geht. Das erste Gebot deutscher Außenpolitik ist die Befriedigung unserer Interessen – und das erfordert, dass man zahlungsunfähigen Partnern unter die Arme greift, wenn ihre Zahlungsnot das gemeinsame Geld gefährdet. Denn „wir profitieren vom Euro am meisten!“
Mit ‚Wir‘ ist zunächst ‚die Wirtschaft‘ gemeint, das Kollektiv deutscher Kapitalisten, die in der ganzen Währungsunion durchschlagende Erfolge im Euro bilanzieren. Und in einer freien marktwirtschaftlichen Konkurrenz bedeutet das, Währungs- und Wertegemeinschaft hin oder her, dass sie das nicht nur mittels, sondern auch auf Kosten ihrer Partner tun. Mit Verkaufsschlagern ‚made in Germany‘ für industrielle, kommerzielle und staatliche Großkunden wie für Otto Normalverbraucher und mit eigenen Handelsketten bedienen deutsche Kapitalisten Kunden aller Art und Größe, bedienen sich also umgekehrt auf allen erdenklichen Märkten an deren Zahlungsfähigkeit. Überall in der Eurozone und in stets wachsendem Maße stecken unsere europäischen Brudervölker gutes, europäisches Geld in die Taschen deutscher Kapitalisten statt in die der anderen. Auf diese erfolgreichen Geschäfte haben auch deutsche Banken ihre eigenen in großem Stil draufgesattelt: Lauter Geschäfte mit Kredit, den sie den Handelspartnern auch und gerade in den heutigen ‚Krisenländern‘ großzügig gewährt haben. Sie streichen nicht einfach Zins und Tilgung ein, sondern tragen mit ihren Kreditgeschäften ihren Teil dazu bei, dass ganze europäische Volkswirtschaften derart ‚über ihre Verhältnisse‘ leben können, dass deutsche Kapitalisten aller Art an ihnen nachhaltig und unverhältnismäßig gut verdienen. Das Gefälle zwischen Deutschlands ökonomischen Resultaten und denen seiner Partner sollen diese zwar so interpretieren, als würde eine deutsche Lokomotive sie kräftig nach vorne ziehen, aber das macht die Sache auch nicht wahr. Und wenn diesen Ländern in der Krise die Schulden über den Kopf wachsen und Staaten vor dem Bankrott stehen, sind natürlich weder die deutschen Exporteure noch die Kreditgeber, sondern allein sie selbst schuld an ihrer Misere: Schließlich haben sie ja über ihre Verhältnisse gelebt…
Der für die Deutschen wenig erfreulichen Nachricht, dass die Fortsetzung dieser Erfolgsstory von der finanziellen Gesundheit ihrer weniger erfolgreichen Partner und Konkurrenten abhängt, steht eine viel bessere gegenüber: Eben diese Erfolgsstory hat auch dafür gesorgt, dass die andere maßgebliche Abteilung des deutschen ‚Wir‘, die deutsche Staatsgewalt, mehr als alle anderen vom gemeinsamen Geld profitiert hat. Die genießt eine Kreditwürdigkeit und Finanzmacht im Euro, die ihren unterlegenen Konkurrenten, die von der Gemeinschaftswährung weit weniger profitiert haben, eindeutig abgeht. Und in der schönen europäischen Wertegemeinschaft bedeutet das eben, dass Deutschland enorm viel politische Macht über seine Partner besitzt, mit der es die Verantwortung für ihre Genesung übernimmt. Merkel und Schäuble müssen es deshalb gar nicht dabei belassen, bei ihrem ‚Rettungsprogramm‘ an die Solidarität ihrer besser gestellten Partner bloß zu appellieren. Sie müssen auch keine Rücksicht darauf nehmen, welche Solidarität die rettungsbedürftigen Partner erwartet hätten und die mit-rettenden Partner zu zeigen bereit gewesen wären. Sie drängen letztere einfach zum Bereithalten von Finanzmitteln mit einer Unerschütterlichkeit, die nur von der Heftigkeit übertroffen wird, mit der sie erstere dazu anhalten, ihren Völkern unter dem Titel ‚Austerität‘ eine epochemachende Verarmung aufzuzwingen. So erfahren alle europäischen Partner von ihrer Führungsmacht, dass es nicht weit her ist mit ihrer Souveränität, autonom zu entscheiden, wie sie ihren Reichtum bewirtschaften, wie und wofür sie ihre Bevölkerung dafür in Anspruch nehmen.
Die Beschwerden europäischer Völker und ihrer Führungen auf beiden Seiten der Rettungsaktion lassen Deutschlands führende Verantwortungsträger kalt. Sie wärmen sich stattdessen an dem guten Gewissen, bloß für die Regeln des Clubs einzutreten, die alle längst unterschrieben haben. Was auch immer die Euroländer jetzt von den Regeln halten, die sie als gleichberechtigte Mitglieder einmal mit verabschiedet haben, und was auch immer deren Befolgung ihnen jetzt abverlangt: Es sind nun einmal die Regeln ihres Vereins. Und das bedeutet gemäß deutscher Auffassung nicht, dass sie diese Regeln weiterhin mit-, also auch umdefinieren können, sondern in der Hauptsache, dass sie ihnen ein für allemal unterworfen sind und dies auch zu bleiben haben – nicht wegen ihrer damaligen Unterschrift, sondern allein wegen der ökonomischen Erpressungsmacht, die Deutschland jetzt über sie ausübt. Dass die Rettungskandidaten nicht mehr souverän über ihren Haushalt entscheiden, heißt für Deutschland allerdings überhaupt nicht, dass ihre Hoheit über Land und Leute bedeutungslos geworden wäre – im Gegenteil: Die verordnete Austerität will ja auch vollstreckt sein, und das ist eine genuine Aufgabe für souveräne Gewalten. Die brauchen auch gar nicht erst damit zu kommen, dass die verlangten Reformen ihre Völker ins Elend treiben. Mit Härten für die lohnabhängigen Massen – die letzte und unmaßgebliche Komponente des nationalen ‚Wir‘ – profilieren sich deutsche Politiker, egal ob schwarz, rot, gelb oder grün. Das sind genau die ‚Hausaufgaben‘, auf deren rechtzeitige Erledigung sie nicht stolz genug sein können – die Armut der Massen erklären sie zu ihrem Erfolgsrezept! Und wenn alle anderen Euro-Partner bei sich die nötigen ‚Reformen‘ mit aller Macht und gegen einige Widerstände durchsetzen, dann ist es nur gerecht, dass auch die geretteten Verlierer der innereuropäischen Konkurrenz, je nachdem, ein bisschen mehr Härte gegen ihre Bevölkerung oder ein bisschen mehr Verzichtsbereitschaft an den Tag legen. Außerdem sollten die Griechen und ihre Kollegen eines endlich einsehen:Wenn Deutschland sich so unerbittlich für sein Geld einsetzt, dann macht das auch ihr Geld stark, und das fällt viel mehr ins Gewicht als der Umstand, dass man ihnen die souveräne Verfügung über dieses gute Geld entzogen hat! An Deutschland können sie ja schließlich studieren, wie sehr man von eiserner Haushaltsdisziplin und einem starken Geld profitieren kann, wenn man nur so konkurrenzstark ist wie Europas Vormacht – womit der wirklich entscheidende Dienst der deutschen Rettungspolitik an ihren Partnern angesprochen wäre: Alle Reformen in all ihrer Härte sind kein Selbstzweck, auch nicht einfach ein Gebot der Gerechtigkeit, sondern dienen der Stärkung der ‚Wettbewerbsfähigkeit‘ der Konkurrenzverlierer, womit an sie der weise Rat ergeht, sich die ökonomische Potenz zuzulegen, andere zu Verlierern zu machen. Es mag sein, dass das, was unter diesem Titel läuft, in den geretteten Ländern auf nichts als ein nachhaltiges Schrumpfen ihrer Wirtschaft hinausläuft, weil zum Erfolg im marktwirtschaftlichen Wettbewerb schon ein wenig mehr gehört als die Armut der Massen – schlagkräftige Kapitale z.B., die mit der Armut etwas für sich anzufangen wissen. Aber dann sind immerhin die Geschäfte, die es dort allenfalls noch gibt, marktwirtschaftlich solide – so solide wie der Haushalt, der sich auf die Erträge radikal zusammenkürzt, die die gesundgeschrumpfte Wirtschaft allenfalls noch abwirft, und so solide wie die Position dieser Länder an der Peripherie des europäischen Wirtschaftsraums, dessen Zentrum in Deutschland liegt. Dann nutzt ihnen der Euro zwar immer noch nichts, aber immerhin gefährden sie dann nicht mehr den Nutzen, den Deutschland eben „mehr als alle anderen“ aus der Gemeinschaftswährung zieht.
Doch beim Euro geht es den Deutschen nicht bloß ums Geld, was die Kanzlerin immer wieder mit dem Hinweis beteuert, er sei „mehr als eine Währung“ und stünde auch für „die Einigungsidee Europas“. Deutschland buchstabiert seinen Nutzen aus dem Euro eben etwas anspruchsvoller. Merkel schätzt nämlich die „große Bedeutung“, die dem Land in der Welt zukommt, „das Gewicht“, das es in der Weltpolitik besitzt, wenn es über ein Geld wie den Euro verfügt. Dass ökonomische Siege über seine Partner politische Macht über sie begründen, ist eine Gleichung, die Deutschland nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt realisieren will – und auch dafür braucht Deutschland alle seine Partner. Die geben dem Markt und dem Geschäft mit dem Euro erst die kritische Masse, die es braucht, um Deutschlands Nutzen aus ihm komplett zu machen. Denn Deutschland will in seinem Geld nicht bloß seine außerordentlichen Erfolge beim Verdienen der Gelder der Welt bilanzieren und mit diesem starken Geld über seine Euro-Partner bestimmen. Es misst den Nutzen dieses Geldes an dem, was die amerikanische Supermacht mit ihrem Weltgeld Dollar alles kann und tut. Das europäische Geld muss das der Weltmacht sein, die Deutschland mit Europa werden will. Wenn also Merkel die Bedeutung der Gemeinschaftswährung mit einem Hinweis auf die Gefahr eines irreversiblen „Bedeutungsverlusts“ von Europa in der Welt beschwört, die mit dem Scheitern des Euro verbunden wäre, dann nicht, damit ihre Partner wissen, was für ein wichtiges ökonomisches Mittel ihnen zur Verfügung steht, wenn sie über ein Weltgeld Euro verfügen. Es ist genau andersherum: Deutschlands Partnern wird damit bedeutet, dass Alternativen zur Eurogemeinschaft ihnen genau deswegen nie wieder zur Verfügung stehen. Sie dürfen aus dieser Gemeinschaft weder andere entlassen, bloß weil sie in deren Verbleib eine unerträgliche Belastung sehen, noch dürfen sie selbst aus ihr entlassen werden, bloß weil sie in ihr nichts mehr zu bestellen haben. Deutschland hat sich mit Haut und Haar der europäischen Einheit verschrieben, weil es in der Welt eben nicht bloß als Deutschland, sondern als europäische Führungsmacht auftreten will, als Anführer eines Staatenblocks, der den ganzen Kontinent abdeckt, den weltgrößten Markt und ein Weltgeld wie den Dollar beherbergt. Also sind auch die Partner mit Haut und Haaren drin. Sie haben immerhin auch etwas davon, eben eine Mitgliedschaft in einem großartigen, mächtigen Club, den Deutschland anführt, und falls ihnen das nicht einleuchtet, weil die Ziele und Notwendigkeiten dieses Clubs maßgeblich in Berlin bestimmt werden, dann haben sie immer noch den ‚Frieden in Europa‘. Der ist offenbar keine Selbstverständlichkeit in dieser Wertegemeinschaft, doch immerhin sind damit alle Fragen danach, was die Partner in und von diesem Frieden haben, vollumfänglich beantwortet.
Und Deutschland lässt weder sie noch den Rest der Welt eine Sekunde lang im Unklaren darüber, welche Verantwortung es mit einem friedlich vereinigten Europa in der Welt übernehmen will.
2. Handelspolitik für uns und den Rest der Welt
Deutschland will mehr Freiheit auf dem Globus: für Handel und Investitionen, die europäische Kapitale in größerem Maße machen können sollen. Es will mehr Wachstum für europäische Standorthüter, die daraus ihre Machtmittel beziehen, und von dem sich auch die normalen, lohnabhängigen Leute einige Arbeitsplätze versprechen dürfen – die brauchen sie laut ihrer Führung so sehr, dass sich jede Frage von selbst verbietet, was sie davon haben. Mehr Freiheit sollen Europas Kapitalisten zunächst in Amerika finden, wo auch und gerade der Markt von einzigartiger Größe ist. Dass dieses Mehr an Freiheit mit einem Mehr an Konkurrenz einhergeht, scheint deutschen Verantwortungsträgern keine Sorgen zu bereiten, was angesichts der überragenden Wettbewerbsfähigkeit, von der schon die Rede war, nicht zu überraschen braucht. Der deutsche Standorthüter ist sich der Größe und der Schlagkraft seiner Kapitale, ihrer Freiheit im Umgang mit der deutschen Arbeiterklasse so sicher, dass er die gewachsene Freiheit der Konkurrenz um Marktanteile mit mehr Marktanteilen für deutsche Kapitale einfach gleichsetzt. So überzeugt sind deutsche Politiker von der Erfolgstüchtigkeit ihrer Kapitalisten, dass ihnen tendenziell alles, was die USA und auch sie selber über die Jahre an Regulierungen und ‚Standards‘ geschaffen haben, wie ein Haufen potenzieller Hindernisse für mehr Erfolg erscheint.
Die Bewohner von Merkels Land mögen beim TTIP vor allem an die Freiheiten denken, die den USA und ihren Kapitalisten eingeräumt werden; sie mögen sich in Vorstellungen darüber ergehen, was ihnen demnächst alles auf dem Teller landet, und bei ihrer politischen Führung auf Schutz der europäischen ‚Standards‘ beharren, deren Güte in dem Maße zu wachsen scheint, wie sie abgebaut zu werden drohen. Die politische Führung selbst schaut jedenfalls weit über die Tellerränder ihrer Schützlinge hinaus: Das Abkommen trägt zwar das Wort ‚transatlantisch‘ im Titel, aber Deutschlands Verantwortungsträger nehmen dabei längst den ganzen Weltmarkt ins Visier. Das Abkommen selbst mag nach Auskunft des Wirtschaftsministers sogar inzwischen ‚tot‘ sein, sehr lebendig bleibt dagegen die Absicht, den Handel und Wandel auf dem ganzen Globus mit einem Regelwerk zu überziehen, das eine eindeutig deutsch-europäische Handschrift trägt. TTIP, CETA etc. sind nur Schritte zum Ziel, über dessen Notwendigkeit deutsche Handelspolitiker keinen Zweifel aufkommen lassen. Sie wissen nämlich und sagen es ihren Bürgern auch laut und deutlich, dass ohnehin alles, was auf den Feldern blüht, auf die Esstische der Nation kommt und an Arbeit und Verdienst im Lande überhaupt stattfindet, durch die Konkurrenz der Kapitale auf dem Weltmarkt bestimmt wird. Zum Erfolg in der gehört offenbar mehr als ein entsprechender Umgang mit der heimischen Arbeiterklasse, von wegen ‚Hausaufgaben‘ und so. Wenn der deutsche Wirtschaftsminister angesichts der nach seinem Geschmack zu zahlreichen Anti-TTIP-Demonstranten über die nach seinem Geschmack zu kleine europäische Bevölkerung seufzt und so prägnante Sätze von sich gibt wie: „Der Welthandel wächst, wir schrumpfen!“, dann drückt er entsprechend volkstümlich aus, wofür die deutsch-europäische Bevölkerung überhaupt da ist: Sie ist Verfügungsmasse – dazu da, ihren Staaten das nötige ‚Gewicht‘ zu verleihen, das sie für ihre ökonomischen Zwecke in aller Welt brauchen. In seinem einfachen Satz bringt Gabriel den Dreischritt unter, der die gesamte deutsche Handelspolitik leitet: Die Größe der Bevölkerung steht für die Größe des Markts, der größer werden muss; je größer der Markt, desto wuchtiger unsere Kapitale, die sich in dem durchsetzen und durchzusetzen haben; desto größer auch die Erpressungsmacht, mit der Deutschland allen anderen Staaten auf der Welt gegenübertreten kann. Denn dann lassen sich Handelsbedingungen durchsetzen, die unseren Erfolg garantieren, damit die anderen uns nicht zuvorkommen. In einem Freihandelsbündnis mit den Amerikanern ließen sich nämlich gewisse aufstrebende fernöstliche Länder, die uns bei unserem Programm seit Längerem in die Quere kommen, ein ganzes Stück kleiner machen. Doch so sicher deutsche Handelspolitiker sind, dass in der weltweiten Konkurrenz nun einmal das Prinzip ‚fressen oder gefressen werden‘ gilt, so sicher sind sie sich auch, dass eine weltweite Handelsordnung in europäischer Verantwortung nicht nur Europas Kapitalisten und Lohnabhängigen gut tut, sondern auch den Verbrauchern und Menschen der ganzen Welt: Die wären ja sonst den Standards der anderen ausgesetzt. Für diesen Dienst an der Welt muss natürlich eine Bedingung erfüllt werden, und auf der dürfen Deutschlands besorgte Bürger ihrer politischen Führung gegenüber in welcher volkstümlichen Übersetzung auch immer beharren: Die vereinbarten Standards müssen wirklich unseren Erfolg gewährleisten, nicht den der anderen.
Schließlich haben wir mit unserem Erfolg auch noch die Welt zu retten.
3. Die Rettung unserer (Um)Welt
Nicht nur die Menschen, die jetzt die Welt bevölkern, auch ihre Kinder und deren Kindeskinder brauchen ein von Deutschland geschriebenes, zumindest mitgeschriebenes Regelwerk für die globale Wirtschaft, Abteilung ‚Nachhaltigkeit‘. Bei der Erstellung des einschlägigen Regelwerks verhandeln Deutschlands Politiker eine Sache, die viel dringlicher ist als die Frage, was die um globale Märkte konkurrierenden Volkswirtschaften der Umwelt antun: die weltweite Energieversorgung. Mit der schrittweisen Abkehr von fossilen Energieträgern geht es immerhin um die Stoffe, mit denen eine Kategorie von Nationen ihren Kapitalismus antreiben und die einer anderen ihre Haushalte und überhaupt das Leben ihrer Gesellschaften finanzieren. Dass Deutschland bei der Bewältigung dieser Frage eine führende Rolle zukommt, ist nach der marktwirtschaftlichen Logik, der auch das Klima zu gehorchen hat, vollkommen einleuchtend. Denn dank der Technologie und – nach der gleichen marktwirtschaftlichen Logik absolut entscheidend – der Kapitalgröße und -produktivität, über die deutsche Unternehmen verfügen, sehen Deutschlands Verantwortungsträger in der Wende zur ‚Nachhaltigkeit‘ nicht bloß eine Reihe von ökonomischen Einschränkungen einiger ihrer einheimischen Kapitalisten, sondern eine großartige Geschäftsgelegenheit für den gesamten Standort. Wenn Deutschland die Welt zu einem Markt für sich herrichtet, also nach seiner Klimatechnologie ausrichtet, dann braucht man sich um die Welt nicht länger Sorgen zu machen, weil vom deutschen Profit der Globus mit seinem Klima und so die ganze Menschheit mit profitiert – und wenn dann die Auto- und oder eine andere gewichtige Industrie einer so verantwortlichen Macht die Festlegungen des einschlägigen Regelwerks nicht gut mit ihren geschäftlichen Rechnungen zur Deckung bringen kann, sind im Namen der Rettung des Klimas, die anders eben nicht zu haben ist, gewisse Ausnahmen und Abstriche geboten. Denn der deutsche Beitrag zur Bekämpfung des Klimawandels kann ohnehin nicht in so etwas Kleinlichem wie einer bloß nationalen Energiewende bestehen, also darin, was das Land selber an Emissionseinsparungen anbietet. Deutschlands Verantwortung gebietet vielmehr, die Beiträge der anderen zu definieren.
Über so viel Sorge um die großen Fragen, die den gesamten Globus von heute und morgen betreffen, vernachlässigen die Deutschen überhaupt nicht ihr näheres, europäisches Umfeld. Im Gegenteil.
4. Unsere Ukraine
Auch in Osteuropa will Deutschland nämlich mehr Freiheit, und zwar nicht nur für sein Kapital – das sowieso –, sondern auch für die Völker des ehemaligen sowjetischen Machtblocks. Diese Verantwortung verträgt keine Rücksichten: weder auf den russischen Rechtsnachfolger der SU, noch auf die Ansprüche der seit einiger Zeit freien Staaten selbst. Das gilt auch und gerade für die Ukraine, den jüngsten und belebtesten Schauplatz im Kampf um die Selbstbestimmung der ehemals unterdrückten Ost-Völker, das ‚Bruderland‘ Russlands und ‚Kernstück‘ seines ‚nahen Auslands‘. Das deutsch geführte Europa tritt dem Land nicht einfach als Geschäfts- und sonstiger Partner gegenüber, mit dem man von gleich zu gleich das übliche diplomatische Feilschen über Verträge mit den dazugehörigen kleineren und größeren wechselseitigen Erpressungsmanövern betreibt. Es tritt vielmehr als eindeutig überlegenes ökonomisches Kraftzentrum an, von dem die Adressaten so komplett abhängig sind, dass Europa alle Freiheit genießt, sie ganz nach eigenem Kalkül an sich zu binden. Es präsentiert seine Bedingungen in Gestalt des ‚acquis communautaire‘ als fix und fertiges Paket, bei dem es nichts zu rütteln, gar aufzuschnüren, sondern nur das eine zu tun gibt: die ‚Reformen‘ Punkt für Punkt umsetzen, die in diesem Fall viel mehr als ‚Wettbewerbsfähigkeit‘, nämlich die Anpassung der gesamten ökonomischen und politischen Verfassung an den europäischen Rechtskatalog verlangen. Die Fortsetzung dieses Tests auf die Fähigkeit Europas, seine ökonomische Wucht, die Größe und Tiefe seines Markts für seine strategische Expansion einzusetzen, gerät dann zu einer mehrstufigen Demonstration des deutschen Willens, mehr weltpolitische Verantwortung zu übernehmen. Es testet nicht nur die Grenzen seiner zivilen, ökonomischen Erpressungsmacht aus, es zeigt auch seine Bereitschaft, über sie hinauszugehen. Das geht mit der finanziellen und diplomatischen Unterstützung eines regelrechten Putsches in Kiew erst los.
Wenn Russland auf eine entschieden antirussische ukrainische Übergangsregierung eine halbherzig verdeckte militärische Antwort gibt, um seine Kontrolle über die Ukraine wenigstens teilweise zu erhalten, dann lässt sich Deutschland von dem militärischen Auftritt der zweitgrößten Atommacht der Welt weder einschüchtern noch abschrecken. Es denkt auch keine Sekunde lang daran, bei Russland bloß ein geschädigtes Interesse anzumelden. Sich derart zu erniedrigen, dass man den Russen als eine ebenbürtige, bloß mit eigenen Interessen ausgestattete Partei entgegentritt, fällt einer europäischen Führungsmacht im Traum nicht ein. Deutsche Verantwortungsträger stellen sich von vornherein mindestens eine Etage über ihr Gegenüber – als Beschützer eines Regelwerks, das für alle interessierten Parteien gilt. Die Kanzlerin sagt es gerne und immer wieder: Ihr Land tritt nicht für das Recht des Stärkeren, sondern für die Stärke des Rechts ein. So, mit aller gebotenen Bescheidenheit, tritt sie an Russland heran – eine Macht, die, wie dies alle Mächte tun, beansprucht, Recht zu setzen – und verlangt von ihm, dem Recht zu gehorchen, das Deutschland definiert. Deutschland lebt nicht nur in einer europäischen Nachkriegs- und Friedensordnung, die mit seiner Kriegsniederlage ihren Ausgangspunkt nimmt, sondern pflegt das Bewusstsein, diese Ordnung zu hüten, womit auch die Atommacht Russland in seinen Verantwortungsbereich fällt.
Von dieser hohen Warte aus nimmt Deutschland seine ökonomischen Beziehungen zu Russland ins Visier – und weiß sofort, was es gegen seinen Gegner in der Hand hat, wenn die eigenen Kapitalisten mit ihm umfangreiche Geschäfte machen. Damit erschließt es sich nicht nur russische Reichtumsquellen für die eigenen Geschäftemacher, sondern wirkt durch deren punktuelle Aussetzung auf die Brechung des widerspenstigen russischen Staatswillens hin. Auch hier, bei der zerstörerischen Anwendung seiner ökonomischen Macht, wird Deutschland seinem Anspruch gerecht, stets für ganz Europa Verantwortung zu übernehmen, auch in Auseinandersetzungen der kriegsträchtigeren Art pflegt es die Kunst der außenpolitischen Bevormundung. Die einen Europäer mögen kein Interesse an der Aussetzung ihres gedeihlichen wirtschaftlichen Verkehrs mit Russland haben, die anderen mögen es gar nicht bei Sanktionen belassen wollen – für Deutschland ist klar: Ganz Europa muss gegenüber Russland ‚mit einer Stimme sprechen‘, also den Chor für deutsche Forderungen stellen. Die einen werden daran erinnert, dass sie mit Russland zwar viele und ziemlich entscheidende ökonomische Beziehungen pflegen mögen, aber auch Teil einer Wertegemeinschaft mit Deutschland sind, das deswegen bestimmt, auf welcher politischen, gewaltbewehrten Grundlage ihre friedlichen Geschäfte zu laufen haben: ‚Die Zeit der Einflusszonen ist endgültig vorbei‘ – was so viel heißt, dass der europäische Kontinent die Einflusszone der Europäer ist und damit voll und ganz in die exklusive Zuständigkeit der EU fällt. Solange Russland das nicht akzeptiert, verbietet es sich, ihm von gleich zu gleich als Geschäftspartner gegenüberzutreten. Den anderen, vornehmlich baltischen Partnern wird versichert, dass sie nicht primär in der amerikanischen NATO-Führungsmacht, sondern in den europäischen NATO-Partnern unter Führung von Deutschland ihre verlässliche Schutzmacht haben. Weil das so ist, kann Deutschland ihnen auch mit Fug und Recht vorschreiben, wie weit ihr Sicherheitsbedarf wirklich reicht, wann und womit er als befriedigt gelten muss und ab wann alle weitergehenden Forderungen nach militärischer Zurückweisung Russlands eine Gefahr für den Frieden sind.
Wenn Russland und die USA ihren Konflikt in der Ukraine eskalieren, dann lässt sich Deutschland das Ganze jedenfalls nicht über den Kopf wachsen. Es demonstriert mit eigenen Truppen im Rahmen der NATO-‚Vorne-Stationierung‘ seine Fähigkeit und Bereitschaft zu genau der militärischen Konfrontation, die es für ‚unvorstellbar‘ erklärt, und startet zugleich eine diplomatische Vermittlungsoffensive, die von einer sehr reifen Art der Verantwortung zeugt: Es stellt sich zwischen und über verfeindete Mächte in einem Konflikt, in dem es selber als Partei knietief drinsteckt. Es stellt sich als militärische ‚Speerspitze‘ des Westens im Osten auf und warnt zugleich vor ‚Säbelrasseln‘, wenn die amerikanische Führungsmacht des Westens nicht nach deutschen Vorstellungen vorgeht. Es betont die Notwendigkeit militärischer Abschreckung gegenüber Russland und plädiert dann mit aller Selbstverständlichkeit und Friedfertigkeit für mehr Rüstungskontrolle unter Supermächten.
Keine Frage, Deutschland ist in Sachen Krieg und Frieden außerordentlich verantwortungsbewusst.
5. Unsere weltweite politische Verantwortung
Die Sicherheit, mit der Deutschland gegenüber anderen Staatsgewalten auch des größten Kalibers dermaßen großkotzig, im Namen aller Tugenden des Rechts und des Friedens auftritt, verdankt sich – wie könnte es anders sein in der besten aller möglichen Staatenwelten – einer haushoch überlegenen militärischen Zerstörungskraft. Damit ist allerdings so viel auch klar: Diese gewaltsame Grundlage seiner weltumspannenden Außenpolitik stiftet Deutschland nicht mit seiner eigenen kriegerischen Schlagkraft. Für alles, was deutsche Außenpolitiker auf die Tagesordnung setzen, stützen sie sich auf viel mehr als ihre eigene Bundeswehr: Sie nehmen dazu die NATO in Anspruch, das größte Kriegsbündnis der Welt mit der Supermacht USA an der Spitze. Mal mehr, mal weniger explizit bezieht sich Deutschland auf die Abschreckungspotenzen dieses mit allen konventionellen bis atomaren Potenzen ausgerüsteten Bündnisses, als hätten deutsche Verantwortungsträger sie in der Hand. Und es ist schon beachtlich, was sich Deutschland auf dieser Basis in aller Welt vornimmt und zutraut.
Das fängt an mit der außerordentlich erfolgreichen Ausnutzung einer weltweiten kapitalistischen Geschäftsordnung – von der der demnächst scheidende Bundespfaffe und konsequente Mahner in Sachen militärischer Verantwortung natürlich nie sagen würde, dass sie nur durch allgegenwärtige, unwidersprechliche Gewaltpotenzen zu haben ist. Doch nicht nur ökonomisch, sondern auch militärisch ist Deutschland dank dieser Kriegsallianz außerordentlich potent. Wenn etwa – um ein Beispiel aus der Vor-Merkel-Ära aufzugreifen – Politiker des einstigen Jugoslawien beschließen, dass bei ihnen Völker und Staaten nicht aufeinander passen und einige gewaltsame Umsortierungen anstehen, dann muss sich Deutschland offenbar gar nicht mit der misslichen Lage zufriedengeben, ‚wegschauen‘ zu müssen, obwohl sich diese Gewalt in Europa, also in seinem selbstverständlichen Zuständigkeitsbereich abspielt. Mit seinen Waffenbrüdern in der NATO kann es ‚hinschauen‘, der seit Auschwitz auf ihm lastenden Verpflichtungen gerecht werden und gegen den Bombenterror der Bösen eigene Bomben setzen, welche dank der überlegenen Kriegsmittel der Allianz erst richtig für den Terror sorgen, der dem Guten zum Durchbruch verhilft: So geht eine deutsch-europäisch-amerikanische ‚humanitäre Intervention‘, mit der Deutschland zur friedensstiftenden Gründung neuer Staatsgewalten über die dortigen Landesbewohner beitragen kann; zu deren Schutz, also zum Bestand der Freiheit ihrer Staatsmacht leisten die Deutschen bis heute ihren militärischen Beitrag. Das ist längst nicht alles. Den Fortbestand seiner eigenen Freiheit kann Deutschland bis an den Hindukusch bedroht sehen – was deswegen kein übertriebenes Bild ist, weil es diese Freiheit dank der Zerstörungsmacht der USA bis dorthin auch praktisch verteidigen kann. Und dank der gleichen Macht kann es sich dann nach dem Motto ‚Fördern und Fordern‘ auch sehr selbstbewusst für einen neu aufgestellten Staatsapparat vor Ort engagieren. Es kann im Mittleren Osten mit einigen Militärausbildern und Aufklärungstechnik ganze ‚Terrorregimes‘ an der Seite der Amerikaner und mit eigens ausgerüsteten und ausgebildeten Stellvertreterkriegern mit-bekämpfen. An der Seite der französischen Militärmacht kann es Terroristen in der tiefsten Wüste Afrikas jagen und mit seinen europäischen Partnern die Gewässer vor der afrikanischen Küste für Berufspiraten unsicher machen. Dass Deutschland dabei überall als treuer Bündnispartner auftritt, heißt eben umgekehrt, dass es als dieser Bündnispartner überall auftritt.
Es gehört zur berechnend verlogenen Tradition deutscher Außenpolitik, die offensive Ausnutzung der eigenen Bündnistreue als eine Zügelung der deutschen Macht zu deklarieren. Dabei ist Deutschlands Bündnistreue gerade die Art und Weise, wie es ökonomisch, militärisch und diplomatisch weit ‚über seine Verhältnisse‘ lebt: ein Schmarotzertum an der amerikanischen Kriegspotenz, mit dem deutsche Friedenspolitiker über alle Einflusssphären hinweg weltweiten Einfluss nehmen. Mängel, Rückschläge und Skandale bei der militärischen Ausstattung der deutschen Macht hindern deutsche Politiker nicht daran, bei jeder größeren Schlächterei auf dem Globus ihre überhaupt nicht bescheidene Meinung bezüglich der ordentlichen Handhabung staatlicher Gewalt gegen eigene und fremde Völker zum Besten zu geben und sich konstruktiv in die jeweiligen Friedens-, Verhandlungs- und sonstigen Prozesse einzubringen. Deutschland findet nichts dabei, vor der unübersehbaren amerikanischen ‚Drohkulisse‘ aufzutreten und den potenziellen Objekten der Kriegstechnik des NATO-Häuptlings deutsch geführte Verhandlungen als eine ‚friedliche Alternative‘ zu präsentieren, während es gleichzeitig den Amerikanern den von Deutschland aufgezeigten diplomatischen Pfad als effektivere Variante zur Entschärfung der Waffen ihrer Gegner anbietet. Deutschland nutzt die überwältigenden Kriegsmittel aus, die die Amerikaner so gerne vorzeigen, um seinem eigenen freundlichen diplomatischen Gesicht etwas markantere Konturen zu geben – und feiert sich dabei als die zivilisierende Macht, die die einschlägigen Konflikte für beide Seiten zum Besten regelt.
Unter dem Niveau einer Weltmacht, die sich neben der Verfolgung ihrer Interessen als Schiedsrichter in sämtliche Affären von Geschäft und Gewalt auf dem Globus einbringt, tut es diese friedliche Macht also nicht. ‚Exportweltmeister‘, ‚ökonomischer Riese‘ hin oder her – nirgends möchte Deutschland es dabei belassen, Verträge mit anderen Staatsgewalten über die wechselseitige Benutzung von Land und Leuten zu schließen und es dabei zum einen oder anderen Streit kommen zu lassen; nirgends will es sich als eine Macht verstanden wissen, die sich damit zufrieden gibt, bloß auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein. Deutschland erklärt sich nicht nur zuständig für seine Bewohner und für den eigenen ökonomischen Erfolg, es setzt sich vielmehr für die Rechte aller Menschen, nämlich für deren Menschenrechte ein. Die außenpolitische, also wirkliche Bedeutung dieses Titels, die sehr ehrgeizige Stellung, die Deutschland damit gegenüber den über die Menschen tatsächlich verfügenden Staatsgewalten beansprucht, wird spätestens dann deutlich, wenn deutsche Minister auf Auslandsbesuch durch das ‚Ansprechen‘ der Sache mit den Menschenrechten die Frage provozieren, ob ‚wir‘ uns das überhaupt leisten können – etwa angesichts unserer Abhängigkeit von einem riesigen chinesischen Markt, von der Vertragstreue eines türkischen Machthabers, den wir als Flüchtlingsbollwerk verplant haben, oder von der ‚Stabilität‘, die wir uns von den Glanztaten eines ägyptischen Generals versprechen. Deutsche Außenpolitiker sind in der Frage äußerst souverän: Sie wissen, wann ‚Realpolitik‘ angesagt ist und unsere Werte hinter unsere Interessen zurückzutreten haben – was nur unterstreicht, wie schwer die Bürde einer solchen Verantwortung ist, wie sehr unsere Außenpolitiker gerade bei solchen Entscheidungen Anerkennung verdienen. Und zugleich wissen sie genau: Wer bei den Menschenrechten verzagt, hat sich gegenüber anderen Mächten blamiert – dann kann man als Weltmacht gleich einpacken. Und genau darauf kommt es ja an. Schwäche gegenüber anderen Staatsmächten kann sich eine europäische Führungsmacht nicht leisten.
Spätestens dann gilt für sämtliche Führungsfiguren in Merkels Land: Ein so gutes Land – „das beste Deutschland, das wir kennen“ (Gauck) – muss mehr militärische Verantwortung übernehmen. Erst recht, wenn in der Hauptstadt des großen amerikanischen Bruders der falsche Kandidat an die Macht kommt. Wofür auch immer deutsche Bürger Mr. Trump verabscheuen mögen, für verantwortliche deutsche Außenpolitiker stellt er deswegen eine Gefahr dar, weil sie nicht so recht wissen, ob sie sich auf einen so chauvinistischen Amerikaner bei ihrem eigenen imperialistischen Auftrumpfen verlassen können. Dann reden gestandene deutsche Friedenspolitiker – deutsche Journalisten und Fachmänner schon gleich – äußerst freimütig über die amerikanische Machtgrundlage ihres Imperialismus: Man ermahnt sich selbst, ‚endlich erwachsen‘ zu werden und es sich nicht länger unter der ‚amerikanischen Käseglocke‘ gemütlich zu machen. Und man besinnt sich darauf, dass in allem Schlechten das Gute im Ansatz schon verborgen liegt: Jetzt könne sich Europa nicht länger vor der ohnehin längst notwendigen Aufgabe drücken, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen für die unwidersprechliche Ordnungsmacht, die eine friedliche Welt und der deutsche Nutzen in ihr nun einmal brauchen. Dabei kommt für Deutschland eine Beendigung seines so produktiven Schmarotzertums an der amerikanischen Macht nicht in Frage – eine derartige Verkleinerung der deutschen Potenzen wäre höchst kontraproduktiv. Um in Sachen kriegerischer Gewalt flügge zu werden, muss Deutschland vielmehr genug gewaltsame Eigenpotenz entwickeln, damit der amerikanische Hüter der Weltordnung an den deutschen Interessen in und an dieser Ordnung nicht länger vorbeikommt. Um seine Macht im großen Bündnis mit den USA entsprechend zu stärken, hat es die Macht seines kleinen europäischen Bündnisses zu stärken: mit vorsichtigen Aufrufen zur Bildung einer europäischen Armee, gepaart mit umso beherzteren Dementis, so etwas könnte irgendwie im Gegensatz zur NATO stehen.
Gar nicht dementiert wird dabei die Notwendigkeit, der Supermacht moralisch mindestens auf Augenhöhe gegenüberzutreten, der Deutschland seinen ganzen weltpolitischen Auftritt verdankt. Wenn die Chefin von Merkels Land dem Neuen im Weißen Haus zu seinem Wahlsieg gratuliert, indem sie sich zum Hüter der Wertegemeinschaft ernennt, deren Teil auch Amerika ist, und dabei lauter Gepflogenheiten demokratischen Regierens zu Bedingungen erklärt, unter denen sie eine Zusammenarbeit durchaus begrüßen würde – dann bleibt die Chuzpe der Kanzlerin keinem Leitartikler verborgen: Unumwunden geben die Kolumnisten der Nation zu Protokoll, dass das Gerede über demokratische Höchstwerte zwischen Staatenlenkern nichts als die Anmeldung von Machtansprüchen über ihresgleichen ist. Vor allen Dingen passt Merkels Auftritt zum imperialistischen Selbstbewusstsein ihres Landes. Denn bei der gnadenlosen Ausnutzung der amerikanischen Gewaltpotenzen für ihr eigenes ökonomisches und weltpolitisches Herumfuhrwerken pflegt diese Macht überhaupt das Bewusstsein, das bessere Amerika zu sein: Wir verdanken den Amerikanern viel, wir sind als Teil ihrer Wertegemeinschaft groß geworden, also müssen wir Musterschüler auf die imperialistischen Exzesse der Cowboys aufpassen, was auch umgekehrt lehrmeisterliche Warnungen vor falschem ‚Isolationismus‘ beim allfälligen Weltordnen einschließt. Genauso wie Amerika ist Deutschland vielleicht nicht für alles, aber für alles Wesentliche auf der Welt zuständig, nämlich für alle Fragen von Geschäft und Gewalt. Doch Deutschland pflegt diese imperialistische Weltordnung friedlicher und ‚besonnener‘ (Steinmeier) – also einfach besser als die USA.
Wer, wenn nicht dieses Land, wäre in der Lage, auch die Verantwortung für das globale Elend zu übernehmen, das derzeit Richtung Europa strömt?
6. Unsere Flüchtlinge
So sieht es jedenfalls die Kanzlerin. Diese mehrheitlich nach Deutschland fliehenden Figuren können bei der Ankunft noch so mitgenommen aussehen – in ihnen erblickt sie eine glänzende Spiegelung der Größe und Großartigkeit der deutschen Nation. Bei Deutschland sind die Elenden der Welt an der richtigen Adresse, zwar nicht in dem Sinne, dass alle, die hierher wollen, bleiben könnten, ja nicht einmal sehr viele von ihnen. Doch die Bewältigung des Problems, das sie mit ihrer Flucht darstellen, ist bei Deutschland in besten Händen. Dieses Problems hat sich das Land in einer Weise anzunehmen, wie es sich für eine verantwortliche Weltmacht gehört. Das erfordert zunächst das berühmte ‚freundliche Gesicht‘ gegenüber den Elendsfiguren, die es bis nach Merkels Land geschafft haben. Für eine Macht wie Deutschland ist Freundlichkeit gegenüber den Fremden allerdings viel mehr als eine Tugend, die es für sich im eigenen Land praktiziert, sondern eine weltweite Aufgabe, bei der es Führung übernimmt. Deswegen ist die Flüchtlingsfrage auch viel mehr als eine Bewährungsprobe für die moralische Qualität der Deutschen, nämlich ein Test auf die Macht ihres Staates, der europäischen und weiteren Staatenwelt seine Definition dieses weltweiten Problems und dessen Lösung aufzudrücken. Von Lissabon über Wladiwostok bis nach Washington kommt die Welt an dem Elend der Flüchtlinge nicht länger vorbei, weil Deutschland sich dafür verantwortlich erklärt hat.
Auch für diesen machtvollen Auftritt braucht Deutschland seine europäischen Partner, also beansprucht es sie auch mit der entsprechenden Selbstverständlichkeit. Die wären zwar nie auf die Idee gekommen, dass ausgerechnet sie die berufenen Anwälte des Elends seien, das zur globalisierten Welt gehört, schon gar nicht deswegen, weil sie die großen Profiteure davon wären. Aber vom Standpunkt der Bundesregierung ist die Auftragslage klar: Die Partner haben die Lasten der Verantwortung, die Deutschland als globale Macht auf sich nimmt, mitzutragen – daheim wie anderswo, zum Beispiel durch die finanzielle Unterstützung der außereuropäischen Partner, die Deutschland als Lager für und Bollwerk gegen Flüchtlinge vorgesehen hat. Manche ‚Flüchtlingsherkunftsländer‘ haben ihre Bürger gefälligst zurückzunehmen, die uns stören, weil sie bloß auf der Suche nach – legalen oder illegalen – Verdienstgelegenheiten sind, womöglich auch unsere Frauen gefährden, also zu viel sind; ‚instabile‘ Länder haben stabiler zu funktionieren, und in allen Fällen gilt: Wenn Deutschland sich des Problems ‚Flüchtlinge‘ annimmt, dann schreibt es seinen Partnern vor, was das Problem auch für sie bedeutet und von ihnen verlangt. Das gilt sogar für die Beteiligten eines Bürger- und Stellvertreterkriegs in Syrien: Lokalen Kräften wie übergeordneten Sponsoren mutet Deutschland die interessante Sicht auf ihren Konflikt zu, dass es den Krieg nicht zu gewinnen, sondern zu beenden gilt – um der Opfer willen, aus denen Deutschland seine Verantwortung für den Frieden ableitet. Und das heißt nichts anderes als die Zuteilung von Rechten und Pflichten an andere Staaten in der grundsätzlichsten Frage, um die es souveränen Gewaltsubjekten geht.
So sieht Deutschlands ‚humanitäre Verantwortung‘ aus. Ihr Inhalt und Ausmaß fallen mit diesem außerordentlich anspruchsvollen Durchsetzungsprogramm zusammen – seine Bewährung dabei ist die politische Substanz der Humanität Deutschlands, die umgekehrt durch nichts relativiert wird, was die Regierung des Landes in der Flüchtlingsfrage im Namen der Humanität praktisch so alles auf den Weg bringt. In Merkels Land geht eben keine Ecke des Imperialismus ohne einen ganz großen Rechtfertigungstitel, und zwar einen, der zur Größe der Macht passt, die sich auf ihn beruft: Deutschland ist für nicht weniger als die Menschheit zuständig. Ob die Macht von Merkels Land zur Durchsetzung der Ansprüche reicht, die es an die Welt in dem Maße stellt, wie die Flüchtlinge der Welt zu ihm strömen, ist eine andere Frage. Von Zweifeln und Widerständen lässt sich die Chefin der Republik ohnehin nicht beirren. Sie denkt bekanntlich ‚die Dinge vom Ende her‘, orientiert sich also an den Ansprüchen, denen die Potenzen ihres Landes nun einmal zu entsprechen haben. Ein Land, das ein Weltproblem definiert und dafür Verantwortung übernimmt, tut es nicht unter dem Anspruch an sich selbst, in diese Rolle gefälligst hineinzuwachsen.
Die beiden ersten Teile „Merkels Land“
I. Der deutsche Kapitalismus
II. Lebensstandard und sozialstaatliche Fürsorge
im reichsten Land Europas
sind in GegenStandpunkt 3-16 erschienen.